# taz.de -- Journalist:innen verfassen Charta: Die mediale Klimakrise | |
> Der Klimawandel sollte medial als Querschnittsthema behandelt werden. Das | |
> fordert ein Netzwerk aus Journalist:innen. | |
Bild: Rekordhitzewelle in Indien: Der Klimawandel lässt keine Weltregion aus | |
BERLIN taz | Wo die Sieben-Tage-Inzidenz gerade liegt, kann seit zwei | |
Jahren fast jede:r auf Abruf für die eigene Region sagen – zumindest | |
ungefähr. Na klar, man richtet ja sein Verhalten danach aus. Aber wie sieht | |
es mit der aktuellen Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre aus? | |
Wie viel des Treibhausgases hat die Weltwirtschaft im vergangenen Jahr | |
ausgestoßen? Wann hat die Menschheit ihr CO2-Budget voraussichtlich | |
aufgebraucht? Das kann kaum einer beantworten. | |
„Sagt die Wahrheit!“, ist eine der Kernforderungen der Klimabewegung | |
Extinction Rebellion an die Politik – aber auch an die Medien. Der Tonfall | |
klingt vielleicht etwas verschwörungsmythologisch, als würden | |
Journalist:innen in Bezug auf den Klimawandel systematisch lügen. Aber | |
auch die Branche selbst diskutiert über ihren Umgang mit der | |
Menschheitskrise: Wie sollen Menschen Kerndaten und Handlungsoptionen parat | |
haben, wenn sie oft nicht auf den Titelseiten, in den Fernsehnachrichten, | |
im Radio erscheinen? | |
Das will das Netzwerk Klimajournalismus mit einer [1][Charta] ändern, die | |
in der vergangenen Woche erschienen ist. Die Gruppe ist noch jung, hat sich | |
erst im vergangenen Jahr formiert. Die Charta kommt vom achtköpfigen | |
Kernteam des Netzwerks. „Wir haben uns gefragt: Wie müsste | |
Klimajournalismus denn eigentlich sein?“, erzählt der beteiligte Journalist | |
Raphael Thelen. | |
Das zentrale Ergebnis der Überlegungen: „Die Klimakrise ist kein Thema, | |
sondern – analog zu Demokratie und Menschenrechten – eine Dimension jedes | |
Themas“, heißt es in der Charta. Man wolle gar nicht in erster Linie, dass | |
es immer mehr expliziten Klimajournalismus gebe, meint Thelen. „Auch der | |
Feuilletonist oder der Wirtschaftsredakteur sollen in ihrer normalen Arbeit | |
das Klima berücksichtigen, statt zu denken: Ach, das machen ja die | |
Klimaleute schon“, erklärt Thelen. | |
## WM in Katar auch klimapolitisch ein Thema | |
Er nennt das Beispiel der Weltmeisterschaft im Männer-Fußball, die Ende des | |
Jahres in Katar stattfinden soll: „Es ist selbstverständlich, dass auch das | |
Sport-Ressort in diesem Zusammenhang nach den Menschenrechten in der Region | |
fragt.“ Bei den Klimaaspekten sei das in der Breite noch nicht so, | |
kritisiert Thelen. | |
Dabei gibt es sie natürlich – wie im Grunde bei jedem Thema. Auf der einen | |
Seite verursacht so ein Großevent massiv CO2-Emissionen. Auf der anderen | |
Seite ist Katar einer der Staaten, die sich im Zuge des Klimawandels | |
besonders stark aufheizen, nämlich etwa doppelt so schnell wie die Erde | |
insgesamt. Im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten ist es in dem ohnehin | |
heißen Land im Schnitt schon um mehr als 2 Grad wärmer geworden. | |
Gleichzeitig haben die Katarer pro Kopf auch ganz ohne WM den höchsten | |
CO2-Ausstoß der Welt, denn sie setzen wie auch im Export stark auf die | |
eigenen gigantischen Öl- und Gasvorkommen, die unter britischer | |
Kolonialherrschaft entdeckt und zum Wirtschaftsmodell aufgebaut wurden. | |
Wenn es ein Land gibt, in dem sich alle politische Komplexität der | |
Klimakrise zeigt, ist es Katar. | |
## Journalist:innen sensibilisieren | |
„Die Charta richtet sich besonders an Redaktionen und Chefredaktionen“, | |
sagt Thelen. „Es braucht mehr Ausbildung und Fortbildung.“ Das Papier | |
enthält auch Passagen, die in der Branche eher umstritten sein dürften. | |
Dazu zählt die Forderung, dass Medienhäuser auf Werbeeinnahmen aus der | |
fossilen Wirtschaft verzichten. So praktiziert es etwa der britische | |
Guardian seit 2020 oder die schwedische Dagens ETC seit 2019. Die | |
schwedische Dagens Nyheter hat sich im vergangenen Jahr [2][als Kompromiss | |
dazu durchgerungen], fossiler Werbung keine prominenten Plätze mehr | |
einzuräumen. Auch in der taz wurde über das Thema bereits im Einzelfall | |
diskutiert: In einer von Klimaaktivist:innen gestalteten | |
Sonderausgabe hätte eigentlich auch eine [3][Werbung des Kohlekonzerns RWE | |
erscheinen sollen], die schließlich auf Wunsch der Autor:innen entfernt | |
wurde. | |
Dass nicht alle Kolleg:innen die Charta mit Begeisterung lesen werden, | |
ist auch Raphael Thelen bewusst. Er versteht den Text vor allem als Anstoß | |
zum Nachdenken über die eigene Arbeit. „Wir Journalisten haben eine gesunde | |
Skepsis, das gehört zum Handwerk“, sagt er. „Wir wollen und sollen | |
erkennen, wenn wir beeinflusst werden. So wollen wir auch, dass jeder | |
diese Charta kritisch liest.“ Mit dem bisherigen Interesse ist Thelen | |
zufrieden, es habe schon mehrere Interview-Anfragen gegeben – und mehr als | |
100 Unterzeichner:innen. | |
## Nicht der erste Anstoß in diesem Bereich | |
Die neue Klima-Charta ist nicht der erste Impuls für guten | |
Klimajournalismus, der aus der Branche herauskommt. Die Initiative | |
[4][„Klima vor acht“] beispielsweise wirbt für Klima-Informationen zur | |
besten Sendezeit, analog zur ARD-Finanzsendung „Wirtschaft vor acht“. Die | |
Idee: So lassen sich auch Menschen erreichen, die sich nicht eh schon für | |
das Thema interessieren. Die Journalistin Friederike Mayer ist Sprecherin | |
der Gruppe. Corona sei ein gutes Beispiel dafür, was möglich ist, findet | |
sie. „Obwohl die Pandemie ganz plötzlich kam, haben Journalist:innen | |
sie als Krise erkannt und es schnell hingekriegt, gut und umfassend zu | |
berichten“, sagt Mayer. „Das ist eigentlich ganz gut vergleichbar: Auch | |
Corona ist ein komplexes Thema, das sich durch die verschiedenen Ressorts | |
zieht, also naturwissenschaftliche, politische, soziale und wirtschaftliche | |
Komponenten hat. Da können Redaktionen von sich selbst viel für die | |
Klimaberichterstattung lernen.“ | |
Am Donnerstag bringt „Klima vor acht“ einen Sammelband heraus, „Medien in | |
der Klimakrise“ wird er heißen. „Wir wollen motivieren und inspirieren – | |
und den Kolleg:innen auch ein bisschen Mut machen.“ | |
## Neuer Rekordwert bei der CO2-Konzentration | |
Übrigens: Im April 2022 hat die Messstation Mauna Loa auf Hawaii einen | |
neuen Rekordwert bei der CO2-Konzentration in der Atmosphäre gemessen, die | |
bei knapp über 420 Teilchen Kohlendioxid auf eine Million Teilchen Luft | |
lag. Bis die Welt komplett klimaneutral ist, wird der Wert weiter steigen – | |
sinken die Emissionen, bringt das eine lebensrettende Verlangsamung der | |
Erderhitzung. | |
Die Wirtschaftspausen während der Coronalockdowns im Jahr 2020 haben das im | |
ungefähr nötigen Maße geschafft – im vergangenen Jahr fiel die | |
Weltwirtschaft aber fast wieder auf das Vor-Corona-Niveau zurück. Sie | |
verursachte durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas 36,3 Milliarden | |
Tonnen CO2. Noch nicht eingerechnet sind dabei die Mengen von Treibhausgas, | |
die durch Bebauung, Land- und Forstwirtschaft aus natürlichen CO2-Speichern | |
wie Böden und Wäldern freigesetzt werden. Insgesamt kommt die Menschheit so | |
jährlich auf einen CO2-Ausstoß von rund 42 Milliarden Tonnen. Wenn sie die | |
Erderhitzung immerhin bei 1,5 Grad begrenzen will, was auch schon schwere | |
Folgen hätte, bleiben noch 305 Milliarden Tonnen. | |
Bewegen sich die Emissionen weiter auf dem heutigen Niveau, ist dieses | |
Budget in rund sieben Jahren, zwei Monaten und drei Wochen aufgebraucht. | |
2 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://klimajournalismus.de/charta/ | |
[2] /Grosse-schwedische-Tageszeitung/!5752755 | |
[3] /Diskussion-um-RWE-Anzeige-in-der-taz/!5716420 | |
[4] https://klimavoracht.de/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Schwarz | |
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