| # taz.de -- Haare und Identität: Haarlose Frauen tragen ein Stigma | |
| > Die Debatte um die Ohrfeige bei den Oscars zeigt: Frauen, die | |
| > unfreiwillig eine Glatze haben, sind in unserer Gesellschaft ein Niemand. | |
| Bild: Jada Pinkett Smith bei der Party des Modemagzins Vanity Fair während der… | |
| Ein Mann macht sich über die Frau eines anderen Mannes lustig. Und wie | |
| reagiert der Mann, der der Frau nahe steht, auf deren Kosten gelacht wird? | |
| Egal wie, eines steht fest: Die Frau ist die Verliererin. | |
| Ignoriert ihr Mann den Vorfall, hat er sich mit dem Angreifer solidarisiert | |
| und damit indirekt über sie mitgelacht. Interveniert er verbal, ist er der | |
| Spielverderber. Attackiert er aber den Angreifer und schlägt zu, reden alle | |
| nur noch über die beiden Männer. | |
| So geschehen ist das kürzlich, als der Schauspieler Will Smith dem | |
| Moderator der Oscar-Verleihung, Chris Rock, in Hollywood [1][eine Ohrfeige | |
| verpasste]. Rock hatte vor laufender Kamera einen Witz über die Glatze von | |
| Jada Pinkett Smith, Will Smiths Ehefrau, gemacht. Dass diese nicht | |
| freiwillig ohne Haare herumläuft, sondern eine Krankheit die Ursache ist, | |
| hätte er wissen können, weil Jada Pinkett Smith öffentlich darüber spricht. | |
| Medial ist der geohrfeigte Moderator nun das Opfer. Und Will Smith, der | |
| zehn Jahre lang nicht mehr zu den Oscar-Verleihungen darf. | |
| Die eigentliche Opfergruppe aber, die Frauen ohne Haare, für die Jada | |
| Pinkett Smith stellvertretend steht, verschwinden aus der öffentlichen | |
| Wahrnehmung. Es ist eine armselige Geschichte. Eine, [2][in der nicht über | |
| die Männer hinausgedacht wird]. Eine Story, die an der Realität der Frauen | |
| vorbei zielt und nur die Hälfte erzählt. | |
| Haare von Frauen sind Schmuck, Zeichen für Weiblichkeit, Sinnlichkeit und | |
| Sexualität. Sie stehen für Identität, und sie sind auch ein | |
| Wirtschaftsfaktor. Ende 2020 gab es [3][236.309 Friseur:innen] in | |
| Deutschland. | |
| Frauen ohne Haare sind ein anderes Thema, eines, an dem Friseur:innen | |
| nichts verdienen, eines, an dem stattdessen ein Tabu hängt. Am Tabu kann im | |
| Umkehrschluss gezeigt werden, warum Haare bei Frauen so wichtig sind. So | |
| wichtig, dass sie in manchen Religionen bei orthodoxer Auslegung, wie im | |
| Islam, im Judentum und auch von christlichen Nonnen, versteckt werden | |
| müssen, weil sonst fremde Männer enthemmt werden. | |
| ## Unfreiwillige Glatze | |
| Die allermeisten Frauen, die sich für eine Glatze entscheiden, tun es nicht | |
| freiwillig. Sie haben, wie Jada Pinkett Smith – oder auch wie meine Mutter | |
| – eine Krankheit. Bei Smith ist es kreisrunder Haarausfall. Sie ist nicht | |
| die einzige Frau, die ungewollt ihr Haar verliert. [4][Etwa 20 Prozent] | |
| aller Frauen in Deutschland sind laut des Bundesverbandes der | |
| Zweithaar-Spezialisten von Haarausfall betroffen. Bei meiner Mutter ist es | |
| die Folge einer Chemotherapie. Zwar sollen, werden die Medikamente | |
| abgesetzt, die Haare wieder wachsen. Aber es gibt Ausnahmen. Meine Mutter | |
| ist eine. | |
| Frauen, die wie sie unfreiwillig eine Glatze tragen, tragen auch ein | |
| Stigma. Stigma ist griechisch und bedeutet Wunde. In der Soziologie | |
| beschreibt der Begriff einen Makel, ein Defizit. Laut Erving Goffman | |
| entsteht bei Personen, die ein Stigma tragen, eine Diskrepanz zwischen | |
| ihrer „virtualen Identität“, also dem, was sie sein sollten, und dem, was | |
| sie sind. | |
| Meine Mutter verdeckt ihre Glatze mit einer Perücke, sobald sie das Haus | |
| verlässt. Vor dem Hintergrund von Goffmans Theorie ist die Perücke ein | |
| Versuch, das Stigma zu beseitigen, eine Technik der „Bewältigung | |
| beschädigter Identität“, wie es in dem Untertitel seines Buches „Stigma“ | |
| heißt. | |
| Steht meiner Mutter aber doch eigentlich ganz gut, die Glatze, sage ich | |
| manchmal. Ich finde, dass sie eine schöne Kopfform hat. Und ich sage ihr: | |
| „In Berlin könntest du auch mit der Glatze rumlaufen.“ Es gibt immer wieder | |
| Initiativen und [5][Fotoausstellungen] von haarlosen Frauen, die zeigen, | |
| dass Frauen ohne Haare schön und sexy sind. Meine Mutter lebt aber auf dem | |
| Dorf, wo die Bevölkerung an Traditionen und alten Rollenbildern festhält. | |
| Und meine Mutter hasst ihre Glatze. | |
| ## Jubeln und Weinen | |
| Es geht bei der Glatze nicht nur um eine Äußerlichkeit. Es geht nicht nur | |
| darum, wie andere sie wahrnehmen, sondern auch darum, wie meine Mutter sich | |
| selbst wahrnimmt. Es geht um ihre Identität. Als sie mich kurz nach der | |
| Oscar-Preisverleihung und ihrem medialen Höhepunkt, der Ohrfeige, anrief, | |
| sagte sie, sie hätte jubeln können, obwohl sie geweint habe. „Will Smith | |
| hat nicht nur seine kranke Frau verteidigt, sondern auch mich.“ Geweint | |
| habe sie übrigens über die Debatte danach. Weil diese ihr zeigte, dass | |
| Frauen wie sie in der Gesellschaft ein Niemand sind. | |
| Dass meine Mutter weint, hängt auch an den gesellschaftlichen Bildern, die | |
| mit Glatze tragenden Frauen verbunden sind, wie etwa die Assoziation mit | |
| Chemotherapie und Krebs. KZ-Häftlingen wurden im Zweiten Weltkrieg [6][die | |
| Haare abrasiert] – als Akt der Erniedrigung. Und auch Kollaborateurinnen in | |
| Frankreich – als Strafe für ihre Zusammenarbeit mit dem Feind. | |
| Dass Frauen unfreiwillig ihre Haare abgeschnitten werden, ist ein Akt der | |
| Entwürdigung und Unterdrückung, der sich in unser historisches Gedächtnis | |
| eingebrannt hat. Bis heute. Meine Mutter schickte mir nach unserem | |
| Telefonat kommentarlos Bilder aus der Ukraine, die dieser Tage um die Welt | |
| gehen: Fotos von Soldatinnen, denen vor der Freilassung aus russischer | |
| Gefangenschaft die Haare abrasiert wurden. | |
| Das Haar galt in der Antike als Symbol der Lebenskraft und als Sitz der | |
| Seele. Daran hat sich kaum etwas geändert. Haare gelten als relevant für | |
| die Persönlichkeit. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Sozialpsychologe | |
| Reinhold Bergler in einer [7][empirischen Untersuchung]. Laut Bergler ist | |
| das Haar für den ersten Eindruck entscheidend. Es fördert Sympathie oder | |
| Antipathie. | |
| Haare seien „für den Menschen in seiner ganzen Geschichte keine | |
| Randerscheinung seines Äußeren gewesen, sondern sie sind ein entscheidendes | |
| Element menschlichen Selbsterlebens, menschlicher Selbstdarstellung, aber | |
| auch und wesentlich menschlicher Fremdwahrnehmung und Fremdbeurteilung“, | |
| [8][schreibt er in einem Aufsatz]. | |
| ## Haare machen Frauen | |
| „Kleider machen Leute“ heißt es. Es könnte auch heißen: Haare machen sie. | |
| Für Frauen gilt das umso mehr, weil kulturhistorisch Vorstellungen von | |
| Weiblichkeit und Sexualität damit verbunden wurden. „Man kommt nicht als | |
| Frau zur Welt, man wird es“, lautet der wohl berühmteste Satz von Simone de | |
| Beauvoir. Haare machen nicht nur Leute. Haare machen in unserer | |
| Gesellschaft auch Frauen. | |
| Dass das Haar besonders für Frauen so essenziell ist, als Ausdruck ihrer | |
| Sinnlichkeit und ihres Standings in der Gesellschaft, zeigen sogar Märchen. | |
| Rapunzel, lass dein Haar herunter. In der Erzählung, die Generationen von | |
| Kindern vorgelesen wurden, [9][steht das kräftige Haar für Macht]. | |
| Noch älter: Die Schlangengöttin Medusa aus der griechischen Mythologie. Die | |
| Schöne wurde von Athene verflucht, nachdem Poseidon sie, wie es in einigen | |
| [10][Versionen des Mythos] heißt, vergewaltigt hat. Was wird in Schlangen | |
| verwandelt? Ihr Haar. | |
| Heute werden gesellschaftliche Bilder nicht mehr im Märchen oder Mythos | |
| tradiert, sondern im Fernsehen gemacht. Bei Veranstaltungen wie der | |
| Oscar-Verleihung werden modische Standards gesetzt. Dass Jada Pinkett Smith | |
| sich dort mit Glatze zeigt, ist mutig. Ihr Auftritt hätte das Potenzial | |
| gehabt, etwas zu ändern, das Bild von Glatze tragenden Frauen hätte sich | |
| normalisieren können. Die Oscar-Verleihung hätte der Stigmatisierung etwas | |
| entgegensetzen können. Stattdessen wird nur über die Ohrfeige gesprochen. | |
| Natürlich gehört Gewalt verurteilt. Natürlich hätte Will Smith den | |
| Witzemacher zur Rede stellen und nicht angreifen sollen. Aber: Hätte Will | |
| Smith nicht eingegriffen, wäre die Bemerkung von Chris Rock einfach so | |
| stehen geblieben. Er hätte betroffenen Frauen, die auf der ganzen Welt vor | |
| dem Fernseher sitzen, gezeigt, was passiert, wenn sie ihre Perücke | |
| abnehmen: öffentliche Erniedrigung. Gut, dass es nicht so war. | |
| 23 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /94-Oscar-Verleihung-mit-Ohrfeige/!5841590 | |
| [2] /Oscar-Verleihung-und-Vorbilder/!5848463 | |
| [3] https://imsalon.de/branchen-news/branche-detailseite/die-friseurbranche-in-… | |
| [4] http://bvz-info.de | |
| [5] https://www.indeon.de/gesellschaft/frauen-mit-glatze-tabuthema | |
| [6] http://media.offenes-archiv.de/Poppenbuettel_AnkunftEntwuerdigung.pdf | |
| [7] https://www.br.de/themen/ratgeber/inhalt/gesundheit/haare-haarausfall-pysch… | |
| [8] https://www.google.de/books/edition/Haare/HX0kBgAAQBAJ?hl=de&gbpv=1&… | |
| [9] https://streethair.wordpress.com/2014/09/22/2726/ | |
| [10] https://griechische-mythologie.fandom.com/wiki/Medusa | |
| ## AUTOREN | |
| Lea De Gregorio | |
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