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# taz.de -- #MeToo bei der Linkspartei: Der Knall
> Die Linke steckt in einem Sexismusskandal. taz-Recherchen zeigen: Vor den
> Vorfällen in Hessen gab es bereits Vorwürfe in Bayern.
Bild: Kommt es bald zum großen Knall? „Die Linke“ steckt mal wieder in ein…
Für die meisten in der Linkspartei kam überraschend, was ihre Vorsitzende
Susanne Hennig-Wellsow am Mittwoch veröffentlichte. Aus drei Gründen
[1][trete sie von ihrem Amt zurück], schrieb sie. Sie wolle zum einen mehr
Zeit mit ihrem Sohn verbringen. Die Linke brauche zweitens Erneuerung. Und
drittens habe der Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen eklatante
Defizite der Partei offengelegt.
Das war’s. Damit war Susanne Hennig-Wellsow, die in Thüringen so
erfolgreich mitregiert hatte, nach gut einem Jahr weg von der Bundesspitze
der Linken. Wer bleibt, ist Janine Wissler, die Co-Vorsitzende. Die, die
seit dem vergangenen Wochenende [2][im Verdacht steht], sexuelle Übergriffe
in ihrem Landesverband in Hessen nicht energisch bekämpft zu haben. Die,
über der der Sexismusskandal eigentlich hereingebrochen ist. Und der ist
weit größer, als es bislang öffentlich thematisiert wurde.
Die Linke steckt in ihrer tiefsten Krise. Bei den letzten Wahlen im
Saarland und im Bund ist sie gescheitert. Die teils kruden Positionen zum
russischen Angriff auf die Ukraine haben die Partei erneut ins
außenpolitische Abseits gedrängt. Und jetzt erschüttert auch noch ein
Sexismusskandal die Partei, die sich selbst als feministisch versteht.
Der [3][Spiegel] hatte am vergangenen Wochenende über mutmaßliche sexuelle
Übergriffe und Grenzüberschreitungen von Politikern der hessischen Linken
berichtet. Ein Fall sticht dabei besonders hervor: Von Herbst 2017 bis
Sommer 2018 soll ein Mitarbeiter der Landtagsfraktion ein Verhältnis mit
einer Frau gehabt haben, die noch minderjährig war, als sie sich
kennengelernt haben.
Als die Frau Schluss macht, steigt der Fraktionsmitarbeiter unangekündigt
über den Balkon in ihre Wohnung ein und sie haben Sex. Am nächsten Tag
schreibt er ihr in einer Mail, er habe die Nacht „crazy, romantisch,
prickelnd“ gefunden. Die junge Frau leitet diese Mail an die damalige
Landesvorsitzende Janine Wissler weiter. Sie sagt, sie habe mit Wissler
danach zwei Mal telefoniert, die sei dem Thema aber ausgewichen.
Was damals in der Landtagsfraktion viele wissen, worüber Wissler und der
Balkonkletterer aber nie offiziell reden: Wissler und er sind ein Paar. Der
Spiegel schreibt von einem „strukturellen Versagen einer Partei, die
mutmaßlichen Opfern lange keine geeignete Hilfe anbot“.
Janine Wissler reagiert noch am Tag des Erscheinens auf den Spiegel-Text.
Die Parteivorsitzende schreibt, die Frau habe sie angemailt und mit ihr
telefoniert. Aber: „In keinem dieser Kontakte wurde der Vorwurf des
sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Gewalt erhoben. Sie hat mich auch
nicht um Hilfe gebeten.“ Wissler schreibt, sie habe damals die Beziehung
mit dem Fraktionsmitarbeiter beendet und sei bestürzt über den Vorwurf, sie
habe ihren ehemaligen Partner geschützt.
Nach dem Spiegel-Bericht [4][trendet auf Twitter #linkemetoo]. Beim linken
Jugendverband Solid melden sich 60 weitere Betroffene von sexuellen
Übergriffen, bundesweit. Die Vorsitzende von Solid, Sarah Dubiel, sagt, sie
kenne keine Genossin, die noch nie sexistisch angegangen worden sei.
Auch Hennig-Wellsow wusste, dass Wiesbaden nicht der erste Fall von
Sexismusvorwürfen ist. Ein anderer, bisher nicht öffentlich bekannter Fall
hat die Bundespartei intensiv beschäftigt. Wegen dieses Falls hat der
Parteivorstand eine Vertrauensgruppe gegründet, die Sexismusvorwürfe
aufklären soll. Oder – so sehen es manche – die nur als Feigenblatt dient.
Der Fall spielt in Nürnberg und beginnt im Jahr 2017. Mehrere
Parteimitglieder werfen einem dortigen Stadtrat sexuelle Übergriffe und
Grenzüberschreitungen vor. Sie beschuldigen ihn, sie ohne ihre Einwilligung
berührt zu haben, am Hintern, am Oberschenkel, im Nacken. In einem Fall
geht es um eine Affäre, in der emotional Druck ausgeübt worden sei.
Zwei der Parteimitglieder zeigen den Stadtrat an. Zu ihrem Schutz bleiben
die Personen anonym. Aus juristischen Gründen wird auch der Beschuldigte S.
hier nicht mit vollem Namen genannt. Die Staatsanwaltschaft hat die
Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Auf Anfrage der taz sagt er, er habe
sich nichts zuschulden kommen lassen.
## Bild einer überforderten Partei
Die taz hat mit rund zwei Dutzend Personen in der Linken gesprochen, die
mit diesen Vorgängen vertraut sind. Die Personen, die die Vorwürfe gegen
den Stadtrat erhoben haben, äußern sich gegenüber der taz selbst nicht. Sie
streiten noch vor Gericht mit ihm.
Die taz konnte jedoch interne Unterlagen sichten, Protokolle, Anträge,
Mails und Stellungnahmen. Damit lässt sich nachzeichnen, um welche Vorwürfe
es geht und wie die Partei mit ihnen umgegangen ist. Es ergibt sich das
Bild einer überforderten Partei, die ihrem hehren feministischem Anspruch
nicht gerecht wird.
Der Mann, dem die Vorwürfe gemacht werden, ist eine wichtige Figur in der
Linken in Nürnberg. Er ist Stadtrat, war Direktkandidat für den Bundestag.
Nach dem schlechten Ergebnis bei der Wahl im Herbst zog er zwar nicht in
den Bundestag ein, ist aber erster Nachrücker aus Bayern. Im Vergleich zu
den Fällen aus Wiesbaden sind die Vorwürfe aus Nürnberg weniger
schwerwiegend. Aber wie im Wiesbadener Fall geht es nicht allein darum, was
passiert ist. Es geht auch darum, wie sich Verantwortliche in einer Partei
verhalten, wenn jemand sagt, dass etwas passiert sei.
Im Sommer 2020 wendet sich eine junge Frau, ein Mitglied der Nürnberger
Linken, an eine Gleichstellungsbeauftragte des Landesverbands und berichtet
von mehreren Fällen sexueller Belästigung in der Partei. Bei der
Gleichstellungsbeauftragten entsteht der Eindruck, dass es mehrere
Betroffene gibt.
Die beiden Gleichstellungsbeauftragten führen Gespräche mit der Frau und
mit dem beschuldigten Stadtrat. Es geht zum Beispiel um ein Foto, auf dem
der Stadtrat und eine mutmaßlich Betroffene zu sehen sind. Der Vorwurf:
Während das Foto entsteht, habe S. seine Hand auf den Po der Betroffenen
gelegt. Wäre das bewiesen, wäre es strafbar. Die Frau präsentiert eine
Zeugin, die bestätigt, das gesehen zu haben. Der Beschuldigte streitet ab.
Aussage gegen Aussage.
Irgendwann wird klar, dass es zunächst offenbar doch nur eine Betroffene
gibt: die Frau, die die Vorwürfe selbst vorgebracht hat.
„Die Landesvorsitzende kam auf uns beide zu und hat uns gesagt, dass diese
Frau nur für sich spricht“, sagt Simone Barrientos, damals
Bundestagsabgeordnete und eine der beiden Gleichstellungsbeauftragten. In
ihren Augen hatte die Betroffene einen falschen Eindruck erweckt. „Dadurch
ergab sich eine völlig andere Situation“, sagt Barrientos.
Ab da habe sich der Ton gedreht, erzählt eine Person, die die Aufarbeitung
begleitet hat: Der Betroffenen und den Gleichstellungsbeauftragten sei
unterstellt worden, sie hätten gelogen und würden eine politische Kampagne
gegen den Stadtrat fahren. Die Gleichstellungsbeauftragten formulieren ein
Statement: „Die Anschuldigungen haben sich nach sorgfältiger Prüfung wegen
nachweisbarer Falschbehauptungen und Widersprüchlichkeiten als unhaltbar
erwiesen.“ Damit scheint der Fall abgeschlossen.
Im Februar 2021 jedoch werden neue Vorwürfe bekannt. In einer Sitzung des
Kreisvorstandes berichtet ein Parteimitglied von einer Affäre, die sie mit
dem Stadtrat S. gehabt habe. Mehrfach soll er Grenzen überschritten haben.
Sie berichtet von aggressivem Sex, dem sie nicht zugestimmt hatte, davon,
wie der Stadtrat sie emotional unter Druck gesetzt habe.
Felix Heym, der Kreisvorsitzende der Linken Nürnberg, sagt, nach diesem
Vortrag habe „eine sehr ernsthafte Stimmung“ geherrscht. Die Frau, die die
Vorwürfe geäußert hat, beschreibt es ganz anders: Mehrere
Teilnehmer*innen der Sitzung hätten ihre Erlebnisse verharmlost. Eine
soll gesagt haben, auch sie habe schon „scheiß Affären“ gehabt, es sei
nicht Angelegenheit der Partei, darüber zu urteilen. So steht es in einem
Antrag auf Parteiausschluss gegen Stadtrat S., den die Frau und vier
weiteren mutmaßlich Betroffene wenige Tage später einreichen.
Dieser Antrag gibt den Vorwürfen eine neue Dimension. Plötzlich ist da
nicht mehr nur eine mutmaßlich Betroffene von Grenzüberschreitungen,
sondern fünf: drei Frauen, zwei Männer. Ein Mann gibt an, er sei als
Praktikant von dem Stadtrat „ungewöhnlich lange“ am Nacken und am
Oberschenkel berührt worden. Ein anderer schreibt, der Stadtrat habe ihn
ungefragt an den Nacken und Kopf gefasst. Gewehrt hätten sie sich nicht,
aus Angst vor dem mächtigen Stadtrat. Einer der Männer zeigt die Berührung
an, die Ermittlungen werden später eingestellt.
Nachdem die neuen Vorwürfe bekannt geworden sind, Anfang März 2021, tritt
eine der beiden Gleichstellungsbeauftragten, Eva Kappl, zurück. Sie
erklärt, dass sie den Druck, der mit der Aufklärung einhergehe, nicht mehr
aushalte.
Anders als in der Einschätzung, die die Gleichstellungsbeauftragten nach
den ersten Vorwürfen abgegeben haben, schreibt Kappl nun, sie könnte
keineswegs mit Sicherheit sagen, dass alle Vorwürfe, die die Frau erhoben
habe, Falschbehauptungen seien. Sie lehne es ab, dass Vorwürfe von
Betroffenen generell abgetan würden, nur weil im Laufe des Verfahrens
einmal Zweifel aufgekommen seien.
Der Rücktritt der Gleichstellungsbeauftragten, die neuen Vorwürfe – für den
Landesverband passiert all das zu einer ungünstigen Zeit: Der Stadtrat S.
hat gerade seine Kandidatur für den Bundestag bekannt gegeben, der
Wahlkampf steht an. Einen Kandidaten mit Sexismusvorwurf kann sich die
Partei nicht leisten. Aber kann sie sich den Verdacht leisten,
Sexismusvorwürfe nicht ernst zu nehmen?
Einige im Landesvorstand argumentieren, man könne den Stadtrat nicht mehr
für den Bundestag aufstellen. Das Risiko, dass die Vorwürfe öffentlich
würden, sei zu groß. Andere berufen sich auf den offiziellen Beschluss der
Gleichstellungsbeauftragten. Sie glauben, die Vorwürfe würden bewusst
gestreut als politische Kampagne.
Es ist schließlich der Stadtrat selbst, der die Sache in der Partei bekannt
macht. Anfang März 2021 treffen sich rund 70 Genoss*innen zur
Aufstellungsversammlung für die Bundestagswahl. Einige Tage vorher schickt
S. Whatsapp-Nachrichten an Parteimitglieder. Er schreibt, dass seit seiner
Kandidatur Sexismusvorwürfe gegen ihn vorgebracht würden. Er habe sich
allen Gesprächen gestellt. Es handle sich um Verleumdungen mit dem Ziel,
seine Kandidatur zu verhindern.
Bei der Versammlung spricht er einige Vorwürfe an. Das berichten mehrere
Personen, die dabei waren. Sie beschreiben seine Rede als aggressiv.
Mehrere Redner*innen ergreifen für ihn Partei. Am Ende der Veranstaltung
geht seine Ehefrau auf die Bühne, zeigt mit dem Finger auf die Frau, die
die Vorwürfe erhoben hatte, nennt ihren Namen und ruft, sie solle sich
schämen für ihre Lügen. Sie bekommt Standing Ovations.
Die mutmaßliche Betroffene beschreibt diesen Abend als schwer erträglich:
„Würden wir im Mittelalter leben, hätte der wütende Mob auf der Versammlung
meine Unterstützerin und mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt“, schreibt
sie später in ihrem Antrag auf Parteiausschluss des Stadtrats.
Mit diesem 45-seitigen Antrag beschäftigt sich die Landesschiedskommission.
Kurz nachdem er eingegangen ist, schickt ein Mitglied dieser Kommission
eine Mail an die Frau, die die Vorwürfe erhoben hat: „Meint ihr im Ernst,
dass die Landesschiedskommission parteiinterne Bettgeschichten
recherchieren und bewerten soll? Ich weigere mich und finde eure
detaillierten Ausführungen peinlich (…) Als ich in deinem Alter war, gab es
die Devise: Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum
Establishment.“
Man kann die Fälle aus Nürnberg und Wiesbaden als Generationenkonflikt
lesen, so wie die SMS das nahelegt: Wokies gegen Boomer. Nur täte sich die
Partei keinen Gefallen damit. In den vergangenen zehn Jahren sind 30.000
neue Mitglieder eingetreten, 20.000 davon unter 30. Wenn die Partei eine
Zukunft haben will, dann sind es diese Mitglieder, die sie gestalten.
Die Landesschiedskommission bietet den Beteiligten in Nürnberg schließlich
eine Schlichtung an. Der Landesvorstand offeriert den mutmaßlich
Betroffenen eine Mediation – mit oder ohne den beschuldigten Stadtrat. Die
mutmaßlich Betroffenen lehnen ab. Sie bleiben bei ihrer Maximalforderung:
Der Stadtrat soll aus der Partei ausgeschlossen werden.
Einige im Vorstand empfinden diese Forderung als Affront: Die Hürden für
einen Parteiausschluss sind hoch. Wieso sollte man ein wichtiges Mitglied
ausschließen, zumal auf der Basis von Vorwürfen, die schwer zu beweisen
sind? Für die Betroffenen hingegen sind die Angebote, die der
Landesvorstand macht, nicht akzeptabel: Wieso sollten sie sich mit dem Mann
zusammensetzen, den sie der Belästigung bezichtigen und der das bestreitet?
Ende März folgt wieder eine Versammlung zur Vorbereitung der Bundestagswahl
– es sollen die Listenplätze für die Kandidat*innen vergeben werden. In
kleiner Runde bespricht der Landesvorstand die anstehende Veranstaltung. Am
Ende fragt jemand, wie man damit umgehen wolle, wenn auf der Versammlung,
die per Livestream übertragen werden soll, jemand die Vorwürfe gegen den
Stadtrat anspricht? Dann, soll darauf jemand geantwortet haben, müsse der
Livestream eben leider kurz ausfallen. So berichten es Leute, die in der
Besprechung dabei waren.
Aber niemand thematisiert die Vorwürfe am nächsten Tag. S. wird nominiert
für Platz 6 der Landesliste. Zu dieser Zeit ist das ein aussichtsreicher
Platz.
## Vorwürfe weder strafrechtlich noch parteirechtlich relevant
Während mehrere Parteimitglieder dem Mann also Belästigung vorwerfen,
nominiert der Landesverband ihn für den Bundestag. Die Partei habe sich
dagegen gestellt, die neuen Vorwürfe aufzuklären, sagt eine Person, die die
Aufarbeitung begleitet hat. Es sei darum gegangen, dass die richtigen Leute
auf den richtigen Listenplätzen nominiert werden.
Die Verantwortlichen im Kreis- und Landesvorstand weisen das zurück. Der
Kreisverband hatte nach den neuen Vorwürfen einen Juristen beauftragt, zu
untersuchen, ob die Partei gegen den beschuldigten Stadtrat vorgehen muss.
Die taz kennt den Inhalt des Gutachtens. Der Jurist kommt darin zu dem
Schluss, die Vorwürfe seien weder strafrechtlich noch parteirechtlich
relevant.
Im Mai 2021 stellt die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen den
Stadtrat ein. Es habe Aussage gegen Aussage gestanden, sagt Antje
Gabriels-Gorsolke, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth.
Eine Zeugin habe doch nicht bezeugen können, wie der Stadtrat der
mutmaßlich betroffenen Frau auf den Hintern gefasst habe.
Im anderen Fall habe man die Vermutung des Anzeigenerstatters nicht
nachvollziehen können, dass hinter Berührungen am Kopf oder im
Nackenbereich eine sexuelle Motivation stecke.
Der Stadtrat selbst erstattet Anzeigen gegen die beiden
Anzeigenerstatter:innen und zwei weitere Personen. Der Vorwurf:
Verleumdung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt.
Der Fall aus Nürnberg zeigt das Dilemma von MeToo-Vorwürfen: Meist steht
Aussage gegen Aussage, Zeugen und Beweise gibt es kaum, Widersprüche
häufiger. Betroffene beschreiben oft, dass sie während der Belästigung
versteinert waren. Es ist nicht verwunderlich, dass dabei Erinnerungen
durcheinandergehen. Nur: Ab welchem Punkt werden Widersprüche so groß, dass
sie Zweifel an der gesamten Erzählung zulassen?
Am Ende gilt oft „Im Zweifel für den Angeklagten“. Ein Freispruch ist das
selten, an allen Beteiligen bleibt etwas kleben: am Beschuldigten der
Verdacht, dass er doch nicht ganz sauber ist. An der Gegenseite der
Verdacht, dass sie eine Schmutzkampagne fahren.
Über seine Anwältin fordert der Stadtrat die, die ihn beschuldigen, auf,
Unterlassungserklärungen zu unterschreiben. Sollten sie weiter
Falschbehauptungen verbreiten, drohten ihnen hohe Strafen. Auf Twitter
lässt er Tweets blockieren, die die Vorwürfe gegen ihn erwähnen. Über das,
was sie dem Stadtrat vorwerfen, können sie nun also nicht mehr sprechen.
Die Anwältin des Stadtrats ist selbst Genossin der Linken. Im vergangenen
Sommer wurde sie in die Bundesschiedskommission der Partei gewählt, also in
das Gremium, das über die Vorwürfe in Nürnberg auch informiert war und sich
mit ihnen hätte befassen können.
Im Juni vor der Bundestagswahl erreichen die Vorwürfe aus Nürnberg die
Bundespartei. Sie werden aber nicht etwa durch bayerische Funktionäre in
den Parteivorstand getragen. Die Betroffenen selbst vertrauen sich
Vorstandsmitgliedern an. Eine trägt das Anliegen in den geschäftsführenden
Bundesvorstand. Passiert ist erst mal nicht viel. Dafür treten die
Parteivorsitzende Janine Wissler und Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler
mit dem beschuldigten Stadtrat im Wahlkampf in Nürnberg auf. Da hätten sich
manche mehr Distanz gewünscht.
Kurz vor der Bundestagswahl kommt doch noch Bewegung in die Sache. Eine der
Betroffenen aus Nürnberg schreibt E-Mails an alle 44 Mitglieder des
Parteivorstandes und fordert sie zum Handeln auf. Erst auf diesen Druck von
außen wird der Nürnberger Fall in dem Gremium diskutiert und auf einer
Klausurtagung im Oktober eine Vertrauensgruppe eingerichtet. Darin sollen
fünf bis acht Personen aus dem Vorstand Opfern von Übergriffen,
Machtmissbrauch und Diskriminierung innerhalb der Partei zur Seite stehen.
Die Gruppe arbeitet ehrenamtlich, bekommt kein Budget und keine besonderen
Befugnisse.
Die Gruppe widmet sich als Erstes den Vorwürfen in Nürnberg. Sie sprechen
mit denen, die die Vorwürfe erhoben haben, und mit dem Kreisverband. Sie
bitten auch den beschuldigten Stadtrat um ein Gespräch. Der antwortet auch,
aber das Gespräch kommt nicht zustande.
Der Beschuldigte habe kein Unrechtsbewusstsein gezeigt, sagt Melanie
Wery-Sims, rheinland-pfälzische Landesvorsitzende und Mitglied der
Vertrauensgruppe. „So konnte schlicht keine Aufarbeitung passieren.“ Julia
Schramm, ebenfalls im Parteivorstand und Teil der Vertrauensgruppe, sagt,
S. habe sich „formaljuristisch nichts zuschulden kommen lassen“, aber auch
keine Selbstreflexion gezeigt. Sie sagt weiter, die Gremien in Nürnberg
hätten alles richtig gemacht. Eines aber ärgere sie. Schramm sagt: „Die
sozialen Kosten tragen wieder einmal betroffene Frauen und nicht Männer.
Von einer linken Partei erwarte nicht nur ich etwas anderes.“
Nach den Vorwürfen aus Wiesbaden und dem Rücktritt Hennig-Wellsows tagte am
vergangenen Mittwoch der Parteivorstand. Er verabschiedete einen Beschluss,
darin heißt es: „Wir bedauern die sexuellen Übergriffe in unserer Partei
zutiefst und entschuldigen uns bei den Opfern“. Es folgt eine Reihe von
konkreten Vorschlägen, wie der Vorstand künftig auf Sexismusvorwürfe
reagieren will. Sie gehen zurück auf die Vertrauensgruppe: Es soll
Ressourcen für ihre Arbeit geben, die Partei will bei Bedarf
Psycholog:innen oder Anwält:innen bezahlen. Und vor allem sollen
neue Sanktionsmöglichkeiten bei sexistischem Verhalten eingeführt werden,
etwa die Entbindung von Ämtern in der Partei oder der befristete Entzug des
Rederechts.
Die Verantwortlichen in Nürnberg betrachten die Vorwürfe gegen den Stadtrat
S. als erledigt. Er wird nicht aus der Partei ausgeschlossen. Es gibt neue,
extra geschulte Ansprechpersonen für Betroffene in Bayern, der
Landesverband arbeitet an einer Richtlinie zum Umgang mit
Sexismusvorwürfen.
Eine mögliche Maßnahme, die auch Linken-Bundesgeschäftsführer Jörg
Schindler dem Kreisverband Nürnberg empfohlen hat, sind geschützte Räume
für Frauen, Frauenplena beispielsweise. Auf dem jüngsten Landesparteitag
der Linken in Bayern, im Oktober 2021, fand ein solches Frauenplenum statt.
Auf Antrag einer Parteigenossin wurde das Plenum ausgerechnet in diesem
Jahr auch für Männer geöffnet, als Zuschauer, ohne Stimmrecht. Auch
Stadtrat S. war unter den Gästen.
Mitarbeit: Luise Strothmann, Patricia Hecht
22 Apr 2022
## LINKS
[1] /Hennig-Wellsow-gibt-Linken-Spitze-ab/!5849789
[2] /Sexismus-und-Politik/!5846284
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/janine-wissler-und-die-linke-die…
[4] https://twitter.com/search?q=%23linkemetoo&src=typed_query
## AUTOREN
Sebastian Erb
Anne Fromm
Daniel Schulz
## TAGS
Janine Wissler
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt #metoo
Susanne Hennig-Wellsow
Die Linke
Podcast „Vorgelesen“
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Sexismusdebatte
Janine Wissler
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Die Linke
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Politischer Nachwuchs
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