# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Gegen das enge Denken | |
> Die Bilder des Kriegs erzeugen kaum zu ertragenden Druck. Dabei ist es | |
> Zeit für Nüchternheit. Und für eine neue Friedensbewegung gegen | |
> allseitigen Imperialismus. | |
Bild: Der Slogan #StandWithUkraine steht für Solidarität, verpflichtet aber n… | |
Manche haben in diesen langen Kriegswochen das Gefühl, den Einsturz ihres | |
eigenen kleinen Lebensgebäudes zu erleben. Das Scheitern aller Ambition, | |
aller Hoffnung, die sich mit dem Wort Altermondialismus verbindet. | |
Depressives Schweigen ist wie eine dünne Schicht, darauf türmt sich der | |
laute Moralismus vieler anderer. | |
Kein bisheriger Krieg wurde in allen fürchterlichen Details [1][so | |
bildreich in die Hirne und Seelen gezwungen] wie dieser, als sei es der | |
Ur-Krieg, Horror ohnegleichen. Das erzeugt einen individuell kaum zu | |
ertragenden Druck, und wie zur Abwehr entstehen kollektive Eruptionen, von | |
wutgetränkter Empathie bis zu religiösen Beschwörungen: der Satan in | |
Moskau. Der jugendliche Antipode dazu ist [2][Selenski als Popheld] im | |
Krieg der Sterne. | |
Es ist Zeit für Nüchternheit. Also setze ich ein paar unvollständige | |
Gedanken zusammen, auf dass wir ohne Fanfare irgendwann die Welt wieder als | |
eine Ganze denken können. | |
Als [3][Robert Habeck unlängst die Vereinigten Arabischen Emirate | |
besuchte], gab er sich mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad die | |
Klinke in die Hand. Wo der Minister für neue Energiequellen jenseits der | |
russischen anstand, wollte sich der syrische Kriegsverbrecher | |
internationale Legitimität bestätigen lassen, nachdem die russische | |
Luftwaffe seine Macht durch das Bombardement der Zivilbevölkerung gerettet | |
hatte. Die Beinahe-Begegnung verweist auf die kurze Reichweite der nun | |
gängigen dichotomen Weltbetrachtungen: Freiheit gegen Barbarei, Gut gegen | |
Böse, Realisten gegen (schuldige) Träumer. | |
## Reiche Staaten dürfen Partner selbst wählen | |
Die Herrscher der Golfstaaten gehen gerade auf Abstand zu den USA, blicken | |
vermehrt nach China und stellen sich auf das Ende des transatlantischen | |
Zeitalters ein. Die Emirate waren schon vorher das erste arabische Land, | |
das Assad wieder die Hand bot, und sie stellten sich auch [4][im | |
Endloskonflikt in Libyen] an Russlands Seite. Den reichen Monarchien ist | |
erlaubt, was Europa einem armen Land wie Mali nicht gestattet: seine | |
Partner, wie anrüchig immer, selbst zu wählen. | |
Erneut nach Syrien zu blicken ist kein Whataboutism. Der Westen sah dem | |
Gemetzel dort zu, denn der „Krieg gegen den Terror“ (oder was Assad so | |
nannte) schuf eine Gemeinsamkeit zwischen Europa, den USA und Putin – | |
westlicher Realismus. An Syrien versagte gleichfalls die Friedensbewegung, | |
brachte kaum einen Protest zuwege, weil das Freiheitsbegehren der | |
Syrer:innen nicht in eine veraltete, verengte Variante von | |
Antiimperialismus passte. Der linke Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh, | |
über viele Jahre inhaftiert, hat sich dazu die Finger wund geschrieben. | |
## Kein Fackelträger globaler Freiheit | |
Und er vermutet: Wie Putins Syrienpolitik vom Westen hingenommen wurde, | |
dürfte den Autokraten zu anderen Ambitionen ermutigt haben. Nur spricht in | |
diesem Fall niemand von Schuld, die sonst gerade so freihändig ausgeteilt | |
wird. | |
Schlussendlich zeigt die Anekdote vom Golf: Menschenrechtlich einwandfreie | |
Energie lässt sich nirgends kaufen. Die enge Verkettung der deutschen | |
Wirtschaft mit der russischen Kriegsmaschine ist hochgradig fatal. Aber | |
nährt sich westeuropäisches Wohlergehen nicht generell zu einem | |
beträchtlichen Teil am Elend anderer, nur dann im Globalen Süden? Im | |
Schatten des Kriegs verrotten gerade auf deutschen Regalen Millionen | |
Impfdosen, die anderswo bitter fehlen. Nein, das lenkt nicht ab; die | |
Entscheidung über den Stopp der Gaskäufe mögen Kundigere treffen. Doch | |
stelle ich das Mega-Narrativ in Frage, mit dem nun alles zusätzlich | |
aufgeladen wird: Der Westen als Fackelträger globaler Freiheit und seine | |
Waffen gesegnet mit Gutem. | |
## Solidarität verpflichtet nicht zur Glorifizierung | |
Die Ukraine braucht sichere staatliche Existenz in Souveränität; dem gilt | |
der Slogan #StandWithUkraine. Aber die Vorkriegs-Ukraine mit ihrer | |
Kombination von Armut und Oligarchentum, flankiert von nationalistischen | |
Geschichtsbildern, war nicht gerade ein Systemideal. Das darf jetzigen | |
Beistand nicht mindern, aber genauso wenig verpflichtet Solidarität zur | |
Glorifizierung. | |
Die Dichotomien, die nun das politische Reden bestimmen, sind noch in | |
anderer Hinsicht fadenscheinig. In Frankreich brachte der erste Teil der | |
Präsidentschaftswahl zutage, [5][wie weit der rechtsradikale antiislamische | |
Kulturkampf ins Bürgertum vorgedrungen ist], zumal bei den französischen | |
Katholik:innen, von denen 40 Prozent für die extreme Rechte votierten. | |
Macrons Frankreich erodiert. Denn nicht die Höhe ihres Militärbudgets macht | |
Demokratien „wehrhaft“, wie die neue stählerne Modevokabel lautet, sondern | |
dies muss eine innere Qualität sein, die sich nicht zuletzt als Akzeptanz | |
von Diversität und Vielstimmigkeit äußert. | |
## Backlash gegen alles Hybride | |
Gewiss, manche wollen den Krieg nun für einen Backlash gegen alles Hybride, | |
Postkoloniale, intellektuell Subversive nutzen, die ganze sogenannte | |
westliche Selbstverunsicherung. Als sei es alternativlos, sich mit der | |
Politik von Staaten, Nationen oder einem Militärbündnis zu identifizieren. | |
Es liegt an uns, aus dieser Engführung des Denkens auszubrechen. | |
Der erste Schritt dazu wäre der Aufbau einer neuen, an Emanzipation und | |
Deeskalation orientierten Friedensbewegung, mit einem allseitigen Begriff | |
von Imperialismus. Die mythische Setzung, Putin verkörpere das absolut | |
Böse, zwingt in einen unabsehbar fortgesetzten Krieg. Nüchternheit | |
verlangt: Es muss dringend politische, diplomatische Initiativen geben. | |
Warum nicht China einzubinden versuchen, neben der russischen Bevölkerung | |
die einzige Kraft, die Putin in den Arm fallen kann? Muss nicht allein | |
schon [6][wegen der Millionen Hungernden außerhalb Europas], die die | |
Hilfsorganisationen prophezeien, der Krieg schnellstmöglich gestoppt | |
werden? | |
Es fehlt gegenwärtig so sehr an Menschen, die sich öffentlich mit Kenntnis | |
und Augenmaß äußern und sich dabei der Souveränität zivilen Denkens sicher | |
sind. | |
20 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-ueber-Fotos-aus-Butscha/!5844768 | |
[2] /Deserteure-in-der-Ukraine/!5839358 | |
[3] /Robert-Habeck-zu-Besuch-in-Katar/!5842662 | |
[4] /Schwerpunkt-Libyenkrieg/!t5050759 | |
[5] /Wahlen-in-Frankreich/!5845121 | |
[6] /Weizenkrise-und-Ukraine-Krieg/!5844762 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Friedensbewegung | |
Militär | |
Wladimir Putin | |
Wolodymyr Selenskij | |
Schlagloch | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
China | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ostermärsche | |
Demonstration | |
Russland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Deutsche Kampfbereitschaft: Was tun, wenn's brennt? | |
Klar unterstützen wir die Ukraine! Aber würden wir auch selber zu den | |
Waffen greifen? Wir mogeln uns um die Kriegsfrage herum. | |
Chinas Coronastrategie: Stillstand in Shanghai | |
Die chinesischen Lockdowns bremsen die Weltwirtschaft enorm. Peking wird | |
wohl dennoch bei der Null-Covid-Politik bleiben. | |
Putins Krieg in der Ukraine: Mehr schwere Waffen für die Ukraine | |
Nato-Länder stocken ihre Militärhilfe für die Ukraine auf. Panzer und | |
Flugabwehr sollen helfen, die russische Offensive im Donbass | |
zurückzuschlagen. | |
Berliner Ostermärsche: Kein Frieden um den Frieden | |
Neben dem Ostermarsch gab es eine Alternativ-Veranstaltung. Die Ansichten | |
zum Krieg und den Lösungsmöglichkeiten sind unterschiedlich. | |
Anti-Kriegs-Demonstration in Berlin: Weder Nato noch Putin | |
Gegen Krieg und jeglichen Nationalismus: Eine linke Demonstration am | |
Samstag setzte auf den Pazifismus der ArbeiterInnenschaft. | |
Linkspartei in der Existenzkrise: Die Linke und Putins Krieg | |
Vielen in der Linkspartei galt Russland lange als Friedensmacht – trotz | |
aller Widersprüche. Nun droht sie an der Frage zu zerbrechen. |