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# taz.de -- Fake News und Antisemitismus: Die Geschichte des Simon von Trient
> Wie christliche Fanatiker Mythen über von Juden begangene Kinds- und
> Ritualmorde erfanden. Und diese alljährlich über Ostern zelebrierten.
Bild: Der von Juden angeblich begangene Ritualmord dargestellt von Bildschnitze…
Trient ist genau das, was man gewöhnlich als „ein nettes Städtchen“
bezeichnet. Viele Häuser sind mit bunten Fresken dekoriert, die Berge
erheben sich drumherum, der geräumige Domplatz ist durchaus einen Besuch
wert. Viele Deutsche kennen den Ort deshalb, weil sie auf dem Weg zum
Gardasee hier durchkommen. Oder weil sie sich aus den Geschichtsbüchern an
das Konzil von Trient erinnern. Jenes Konzil im 16. Jahrhundert, mit dem
die katholische Kirche auf die Reformation reagierte.
Heute halten die Touristen gerne für einen Spaziergang samt Eis oder Aperol
Spritz an. Früher suchten die Besucher die Peter-und-Paul-Kirche auf, wo
die Überreste des Simon aufbewahrt wurden. Immer noch gibt es in Trient
eine Straße, die an dieses Kind Simon erinnert. Die Berühmtheit Simons geht
allerdings auf eine antijüdische Legende zurück, wonach Simon von Juden in
einem Ritualmord getötet worden sei.
Die Geschichte dieses Simonino, wie er auf Italienisch genannt wird, ist
einer der eklatantesten Fälle von antijüdischer Hetze des ausgehenden
Mittelalters – einer Hetze, die sich schnell sehr wirkmächtig europaweit
ausbreiten sollte. Vom ganzen Kontinent kamen Menschen in die kleine
norditalienische Alpenstadt, um dem wundersamen Märtyrer zu huldigen.
Sie brachten Votivgaben und Geld mit, waren neugierig oder hofften auf
Heilung von Krankheiten. Die Geschichte des Simon ist aber nicht nur eine
Geschichte des christlichen Antijudaismus. Sie zeigt auch beispielhaft, wie
Fake News entstehen und sich durchsetzen können.
## Am Ostersonntag 1475
Die Erzählung beginnt 1475, in der für Christen heiligsten Zeit des Jahres.
Der zweieinhalbjährige Simon verschwindet in der Karwoche spurlos. Erst
drei Tage später, am Ostersonntag, wird seine Leiche in einem Bach
gefunden. Wie starb er? „Die genaue Todesursache ist damals
offengeblieben“, sagt Domizio Cattoi. Er war Co-Kurator einer Ausstellung
für des Diözesanmuseum von Trient vor zwei Jahren zu dem Fall.
Es hat vor zwei Jahren dem Fall eine Ausstellung gewidmet. Es sei von heute
aus unmöglich, nachträglich die genaue Todesursache festzustellen.
Wahrscheinlich sei aber, dass die vielen Wunden an seinem Körper damals von
Ratten oder anderen Tieren verursacht wurden, nachdem das Kind ertrunken
war.
Für den Tod des Kindes wurde zu Ostern 1475 schnell die jüdische Gemeinde
der Stadt, die damals aus dreißig Menschen bestand, verantwortlich gemacht.
Ein Schauprozess und unter Folter erpresste Aussagen sollten bestätigen,
was schon vorher feststand: Juden hätten hier einen Ritualmord begangen.
Die Hälfte der Juden aus Trient wurde zum Tode verurteilt, Frauen und
Kinder konnten zwangskonvertieren. Die kleine jüdische Gemeinde wurde
ausgelöscht und verschwand aus dem Stadtbild.
## Märtyrer Wilhelm
Ritualmordbehauptungen sind eine Konstante des christlichen Antijudaismus.
Zumindest seit dem Jahr 1144, als Juden in England beschuldigt wurden, den
zwölfjährigen William von Norwich ermordet zu haben. Legenden – nach denen
Juden in der Karwoche christliche Jungs entführten, um ihr Blut zu trinken
und finstere Bräuche pflegten – existierten wohl schon früher, aber erst
das Abfassen einer Geschichte über den Märtyrer Wilhelm führte zu einem
epidemischen Phänomen.
In wenigen Jahrzehnten häuften sich in England die Fälle. Die Erzählungen
der Mönche und Chroniken sorgten für eine entsprechende Verbreitung auch
auf dem Kontinent. Es folgten etliche Judenpogrome, wie zum Beispiel im
hessischen Fulda. Was den norditalienischen Fall aus Trient so besonders
macht, ist nicht die Legende an sich, sondern die Tatsache, dass er mit der
Erfindung der Druckerpresse einhergeht.
Cattoi vom Diözesanmuseum sagt, dass hier die Druckpresse für eine
Schmähkampagne im modernsten Sinne des Wortes genutzt wurde. Simon wurde so
zum vielfach vervielfältigten Symbol des christlichen Antisemitismus.
Der Mann hinter dieser Kampagne hieß Johannes Hinderbach. Er war nichts
weniger als der damalige Fürstbischof von Trient. Warum agierte er so? Der
Antijudaismus war die eine Sache, Historiker Cattoi betont aber auch, dass
es dem Fürstbischof persönliches Prestige und ökonomische Vorteile
verschaffte. Es konnte nicht schaden, dass die Diözese nun einen Märtyrer
vorzuweisen hatte.
Massive Kampagne
Hinderbach setzte eine massive Kampagne in Gang. Per Flugschriften
verbreitete er Pamphlete in italienischer und deutscher Sprache, suggestive
Bilder und Darstellungen vom angeblichen Kindsmord erreichten auch die
Analphabeten. Die Holzschnitte wurden von den Wallfahrern, die die Stadt
besuchten, in ganz Europa verbreitet.
Mit großem Erfolg: Denn obwohl der Papst und der Regent von Oberösterreich
sich zunächst gegen den Kult ausgesprochen hatten, wurde er hundert Jahre
später von der Kirche zugelassen. Er hatte sich de facto bereits
durchgesetzt. Was einiges über die Suggestivkraft von Verschwörungsmythen
aussagt. Um so öfters behauptet, als um so wahrer werden sie von vielen
empfunden. Und sind nur schwer aus den Köpfen der Menschen zu bekommen.
So zog sich der Mythos um den Tod des Simon durch die Jahrhunderte. Mal
wurde so die Grausamkeit der Juden betont, mal die Wundertätigkeit des
Kindes, je nach Epoche und „Bedürfnis“. Einen neuerlichen Aufschwung nahm
sie im 19. und 20. Jahrhundert. [1][Die moderne antisemitische Propaganda
hetzte] nun nicht mehr „nur“ gegen die Juden als Religionsgemeinschaft,
sondern suchte sie im biologischen Sinne als Volk zu diffamieren.
Erst 1965 wurde der Kult von der Kirche endgültig verworfen. Was ihn nicht
daran hinderte, weiterhin zu existieren. Bis heute, sei das so, sagt der
Historiker Gadi Luzzatto Voghera, Direktor des Dokumentationszentrums für
jüdische Zeitgeschichte in Mailand. So werde in rechtsextremistischen und
christlich-fundamentalistischen Kreisen in der Osterzeit weiterhin an den
kleinen Simon erinnert.
Fünf Jahrhunderte später
Nachdem der Kult untersagt wurde, wurde auch der Bann des Rabbinerrats über
Trient aufgehoben. Infolge von Hetze und Verfolgung hatte die jüdische
Gemeinde Trient zur verbotenen Stadt erklärt. Fünf Jahrhunderte später
konnte damit die Auseinandersetzung offiziell als beendet gelten. Doch auch
wenn [2][die meisten Menschen in Europa] den Fall des Simon inzwischen
nicht mehr kennen, so Luzzatto Voghera, blieben Aspekte der
Ritualmordlegenden erhalten.
Das Motiv des „Juden als Kindermörder“ tauche auch immer wieder [3][in
Verbindung mit dem Nahostkonflikt] auf. Oder auch der Vampirismus. „Es gibt
immer noch das Bild, dass der Jude das Geld sauge, so wie er im Mittelalter
das Blut gesaugt haben soll“, sagt der Historiker.
Die jüdische Gemeinde in Italien ist heute sehr klein. Etwa 30.000 Menschen
gehören laut Schätzungen dazu. Der Antisemitismus ist trotzdem ein
verbreitetes Phänomen. Er ist unabhängig von der Präsenz oder dem Verhalten
realer jüdischer Menschen.
„In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle in
Italien dramatisch angestiegen“, sagt Luzzatto Voghera. Um so wichtiger ist
es, über die Konstruktion historischer Mythen wie die des Simon von Trient
aufzuklären.
9 Apr 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Francesca Polistina
## TAGS
Antisemitismus
Italien
Katholische Kirche
Geschichte
Religion
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Propaganda
Hohenzollern
Lesestück Recherche und Reportage
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