# taz.de -- Die Wahrheit: Die Volatilität der Barsche | |
> Wege aus der Coronakrise und aus Putins Krieg: Tiere vermitteln | |
> Führungsqualitäten. Eine besondere Art der Unternehmensberatung. | |
Bild: Von Barschen lernen, heißt siegen lernen | |
„In dem bescheuerten Brackwasser sieht man einfach nix!“ Timo Fischer, 45 | |
Jahre alt, starrt in das algige Wasser des Baggersees in Ostwestfalen. | |
Normalerweise säße er jetzt am Schreibtisch mit Blick über den Main und | |
würde aus der 14. Etage das Morning-Briefing seiner Unternehmensberatung | |
leiten. Doch seit zwei Stunden sucht er seinen Seminarleiter und ist | |
zunehmend entnervt. | |
Der begeisterte Marathonläufer packt die Ruder und paddelt verbissen | |
weiter. Doch egal wohin er das kleine Boot steuert, sein Coach bleibt wie | |
vom Brackwasser verschluckt. „Auch das ist ein Learning: Wenn der Barsch | |
nicht will, will er nicht. Das haben viele in der Arbeitswelt leider | |
vergessen“, kommentiert Cheyenne Schmitz, die im Bug des kleinen Boots | |
sitzt. Schmitz – kurze blonde Haare, Outdoor-Kleidung und selbstbewusstes | |
Auftreten – ist Gründerin der Agentur Führungstiere. Sie bietet | |
tiergestütztes Coaching für Führungskräfte an. Was ihr Klient gerade | |
erfahre, sei die „Volatilität des Barsches“. | |
Tatsächlich hat in der Coaching-Szene ein Umdenken begonnen. Weg vom | |
Menschen, hin zum Tier. Die Pandemie beschleunige die Entwicklung, denn wer | |
Aerosole ausatme und zwei Beine habe, sei eine Gefahr, erläutert die | |
Soziologin Tanja Krug. Auch wenn die ursprüngliche Ansteckung wohl vom Tier | |
ausgegangen sei: Solange die Klienten ihre tierischen Coaches nicht | |
aufäßen, seien diese aus pandemischer Sicht viel sicherer, ist sie | |
überzeugt. Tier-Coaches hätten „virale Credibility“. | |
Krug beobachtet in der Branche schon länger eine schleichende Entfremdung | |
von Mensch und Coach. Coronapandemie und Kriegstreiber wie Wladimir Putin | |
erwiesen der humanen Coaching-Szene einen „Bärendienst“. Dazu käme, dass | |
„es zu viele, pardon, schwarze Schafe gibt. Horrendes Honorar, großes | |
Gelaber, null Inhalt“, so Krugs Analyse. | |
## Grenze der Beziehungen | |
Immer mehr Agenturen setzen deshalb auf das Tier. Auch Lasse van de Bergen, | |
Vollbart und Dutt, früher selbst als Coach tätig, nennt sich auf seiner | |
Visitenkarte nur noch „Tier-Assistent“. Der 28-Jährige betreibt die Agentur | |
Wild Animal Wisdom und verspricht seinen Kunden, an die Grenzen | |
menschlich-tierischer Beziehungen zu führen. | |
Malik Bulut, Ende 50, Manager bei einem großen Energiekonzern, steht im | |
Trainingsanzug mitten in einem Wald nahe Stuttgart. „Riech die Sau!“, | |
fordert ihn van de Bergen auf und streckt selbst die Nase in die Luft. | |
Bulut kratzt sich am kahlen massigen Hinterkopf. Der Vorstand hat ihn zum | |
Coaching verdonnert. Gerüchten zufolge wegen fehlender Teamfähigkeit. Bulut | |
zieht geräuschvoll die Luft durch die Nase. „Ich habe Heuschnupfen, ich | |
riech nix“, sagt er und schaut unsicher zum Tier-Assistenten. | |
Van de Bergen lächelt wissend. Dann klatscht er laut in die Hände und | |
brüllt: „Lauf los, Malik! Lauf um dein Leben! Auf das Dickicht zu!“ Er gibt | |
dem überrumpelten Manager einen kräftigen Schubs. Der schreit auf und rennt | |
los. Fast zeitgleich ertönt lautes Gequieke. Aus dem Dickicht sprengt eine | |
Gruppe Wildschweine: mehrere Muttertiere mit ihren Frischlingen. „Oha! Die | |
Bache ist sauer!“, jubelt van de Bergen, während Bulut nicht mehr bremsen | |
kann und mitten in die Wildschweine stolpert. | |
„Was sind schon zwei Tage Krankenhaus gegen die elementare Lektion, dass | |
die Gruppe alles ist?“, erklärt van de Bergen später in seinem Büro. Bisher | |
habe er ausnahmslos nur zufriedene Kunden. „Zumindest die, die ihr Coaching | |
überlebt haben“, schränkt er ein. Aber auch er lerne dazu und arbeite | |
deshalb beispielsweise nicht mehr mit Stieren, Elefanten oder Nashörnern. | |
## Stier als Coach | |
Unternehmensberater Timo Fischer wäre froh über einen Stier als Coach. Den | |
würde er wenigstens nicht übersehen können. Stattdessen paddelt er seit | |
acht Stunden über den Baggersee auf der Suche nach dem Barsch. Er ist | |
verschwitzt, hungrig und hat einen üblen Sonnenbrand. Doch Agentur-Chefin | |
Cheyenne Schmitz ist gnadenlos. „Ohne Coach kein Coaching!“, sagt sie. | |
Sie kündigt an, über Nacht weitermachen zu wollen. Fischer mahlt mit dem | |
Unterkiefer und unterdrückt ein Gähnen. „Immer das Wasser im Blick | |
behalten!“, mahnt Schmitz. „Denn wenn der Barsch …“ Fischer brüllt | |
plötzlich los: „Sie und der Barsch sind am Arsch!!!“, und stürzt sich auf | |
die Agentur-Chefin. Es kommt zum Handgemenge, doch sie hat schon viele | |
schwierige Klienten gemeistert. | |
Mit einem gekonnten Hüftwurf befördert sie den drahtigen Manager ins | |
Wasser. Der zappelt und strampelt wie wild. „Folge dem Barsch, folge dem | |
Barsch“, beschwört sie ihn. Fischer schreit wie von Sinnen. Kurz darauf | |
versinkt er wie ein Stein. | |
1 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Nico Rau | |
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