# taz.de -- Die Wahrheit: Zu schlapp für Säbelzahntiger | |
> Die Rückabwicklung des Menschen: Der Homo sapiens hält sich für die Krone | |
> der Schöpfung, dabei schreitet die Regression munter voran. | |
Wir Menschen haben der Evolution inzwischen ein Schnippchen geschlagen. Als | |
erste Spezies des Universums haben wir das fundamentale Prinzip | |
ausgehebelt, uns weiter fortzuentwickeln. Wir haben es aufgegeben, uns an | |
unsere Nische, auch genannt Erde, anzupassen. Stattdessen regredieren wir. | |
Vielleicht ist die Nische zu groß. Vielleicht ist unsere Art zu defizitär. | |
Oder Darwin muss neu und rückwärts gelesen werden. Eine tragische | |
Bestandsaufnahme. | |
## Luftleer zum Yoga | |
Selbst körperliche Reflexe wie das Atmen können wir nicht mehr ohne Hilfe | |
ausführen. Unfähig in den Bauch zu atmen, schleppen wir uns ermattet durch | |
die Straßen. Der Atem verstockt, verklemmt, verbarrikadiert. Die Lunge ein | |
löchriger Blasebalg. Mit letzter Kraft taumeln wir durch die Glastür ins | |
überfüllte Yogastudio. Hier wird noch in vollkommener Vollendung geatmet! | |
Glücklich, wer einen Platz ergattert, um den verlorenen Atemrhythmus | |
zurückzuerlangen. | |
Wir brauchen mehr Yogastudios. Atmen ist existenzieller als Wohnen. Auch in | |
beengten Großstädten müssen wir Wohnraum in Yogastudios umwandeln. | |
Supermarktparkplätze stehen abends leer. Dort schaffen wir mit ein wenig | |
Pappe und etwas Feng Shui eine lebenswerte Wohnnische. Simple living ist | |
der nächste Wohntrend! | |
## Die dehydrierte Gesellschaft | |
Das Wassertrinken war einst eine über Jahrtausende eingeübte Kulturpraxis. | |
Doch gehörte sie so selbstverständlich zum Alltag, dass keine | |
Schriftaufzeichnungen über diese archaische Praxis existieren. Immerhin: | |
Findige Unternehmen und altruistische Influencer haben sich | |
zusammengeschlossen, um uns nach Wasser Dürstenden mit Hilfe wohldesignter | |
Trinkflaschen zu hydrieren. | |
Sie leuchten in Signalfarben, damit wir sie erkennen, längst blind für | |
dieses Bedürfnis namens Durst. Die Flaschen sind mit Filtereinsätzen | |
ausgestattet, um das öde Nass mit Ingwer, Zitronenscheibe oder Gurke | |
aufzuwerten. Milliliterskalen zeigen unseren Fortschritt, egal wie klein er | |
ausfällt. Das wird nicht reichen, um unsere dehydrierte Gesellschaft wieder | |
fluide zu bekommen. Wir werden ausgediente Sonnenstudios zu | |
Rehydrierungs-Stationen umbauen. Vor Schule und Arbeit müssen alle zwei | |
Stunden an den Tropf. Sonst gehen wir als mumifizierte Gesellschaft in die | |
Geschichte ein. | |
## Jeder Schritt ist shit | |
Der Urmensch musste es schmerzhaft erlernen. Ursprünglich saß er den ganzen | |
Tag bräsig auf seinem Hintern in der Höhle herum. Kurz vor Sonnenuntergang | |
folgte er seinen Gelüsten nach ein paar Nüsschen. Verließ er schwerfällig | |
die Höhle, schlenderte der Säbelzahntiger easy hinterher. Mit einem | |
Prankenhieb beförderte er den lebensuntüchtigen Höhlendeppen geradewegs ins | |
Jenseits. Darauffolgend evolvierte der Mensch bis hin zum | |
Top-in-Shape-Neandertaler mit flacher Stirn und breitem Kreuz. Er merzte | |
mit leichthändigen Keulenschlägen den Säbelzahntiger und gleich dazu das | |
Mammut aus. Und schuf einen fatalen Kreislauf. | |
Denn heute sitzen wir den ganzen Tag bräsig auf dem Hintern im Büro herum. | |
In unzähligen Videocalls konferieren wir uns nahezu bewegungsunfähig. Kurz | |
vor Sonnenuntergang folgen wir unseren Gelüsten nach Fastfood und verlassen | |
schwerfällig den breitgesessenen Arbeitsplatz. Lebte der Säbelzahntiger | |
noch, weckten wir in diesem Zustand nicht einmal mehr seinen Jagdinstinkt. | |
Er würde ungläubig seinen Großkatzenkopf schütteln, rumpelten wir auf | |
unserem E-Scooter vorbei. „Lieber vegan, als das“, würde er sich enttäusc… | |
von uns sagen. Wir Menschen haben alle unsere natürlichen Feinde besiegt – | |
bis auf uns selbst. Aber das schaffen wir auch noch. | |
## Fischige Verbalkompetenz | |
Wir wissen nicht, ob sich unsere Vorfahren am Höhlenfeuer Haikus | |
zuflüsterten. Doch waren sie vermutlich der Sprache mächtig, legen | |
wissenschaftliche Untersuchungen nahe. Eine faszinierende evolutionäre | |
Errungenschaft, die unser soziales Miteinander in großen Gruppen erst | |
ermöglicht. Wie könnten wir sonst der Politesse erklären, warum es wirklich | |
nötig war, die Feuerwehreinfahrt der Kita für schlappe drei Stunden zu | |
blockieren, um unseren Bart im Barbershop ölen zu lassen. | |
Doch diese Fähigkeit schwindet. Der Frau vom Ordnungsamt geben wir nur noch | |
unseren Instagram-User-Namen. Die Story aus dem Barbershop erklärt | |
schließlich alles. Im Supermarkt schreiben wir dem Kassierer in einer | |
Whatsapp, dass wir leider noch keine Payback-Punkte sammeln. Wir texten | |
unseren Kindern in Reddit-Foren, um die Bettgehzeit zu kommunizieren. Sind | |
wir zum direkten Gespräch gezwungen, fehlen die Worte. | |
Die Evolution dagegen arbeitet effektiv: Sie hat längst verstanden, dass | |
wir nur noch über uns selbst statt miteinander sprechen. So schnappen | |
unsere Münder auf und zu, hilflos wie der Fisch auf dem Trockenen. Schon | |
bald sind wir dieser Fisch – unfähig zu sprechen. Es reicht uns die Flosse, | |
um Zeichen zu tippen. Dank neuster Schutzklasse IPX7 sind die Endgeräte | |
wasserdicht. Denn unser evolutionärer Weg führt zurück vom Land in den | |
Tümpel. | |
## Schlafen in drei Zügen | |
Das Verhältnis des Menschen zum Schlaf war noch nie einfach. Unser | |
Vorfahre, der Homo erectus, machte es dem Leoparden gleich und schlief auf | |
Bäumen. Bis er neben eben diesem aufwachte. Benebelt vom morgendlichen | |
Mundgeruch der Großkatze folgte die Flucht auf den harten Boden. | |
Dort gewannen Schlangen, Ratten und Krabbeltiere den | |
Verdrängungswettbewerb, und das Bett kam in Mode. Müsste nur noch | |
geschlafen werden, doch das fällt der Spezies Mensch heute so schwer wie | |
noch nie. Denn die Gegner des Schlafs scheinen übermächtig: Feiernde | |
Nachbarn, quietschende Bahnen, hupende Autos, lichtversmogte Innenstädte | |
und lärmende Vogelscharen. Die Forschung weiß: Sieben Fünftel der Menschen | |
haben Schlafstörungen. Und dabei sind Schichtarbeiter nicht | |
miteingerechnet! | |
Während wir schlaftrunken durch den Tag stolpern, arbeitet die | |
Konsumgüterindustrie an unserer Erlösung. Pod-casts mit Meeresrauschen, | |
Noise-Canceling-Kopfhörer, Apps für Autogenes Training und | |
Ratgeberliteratur wie: „Schlafen in drei Zügen“, „Flacher schlafen: Die | |
perfekte Körperhaltung für die Nacht“ oder „Schlaf: Geschichten über ein… | |
Hurensohn“. Wir haben damit so viel zu tun, dass wir gar nicht mehr zum | |
Schlafen kommen. Dabei heißt es doch so schön: „Wer schläft, schadet | |
nicht.“ Würden wir das nur beherzigen! | |
So fahren wir mit dem E-Scooter in den Sonnenuntergang. Unsere Augen vom | |
Schlafmangel gerötet. Der dehydrierte Körper lässt uns halluzinieren: Steht | |
da am Straßenrand eine Politesse oder ein Säbelzahntiger? Vorsichtshalber | |
halten wir voll drauf. Wir sind immer noch die Krone der Schöpfung! | |
18 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Nico Rau | |
## TAGS | |
Menschheit | |
Charles Darwin | |
Entwicklung | |
Arbeit | |
Auto | |
Coach | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Wir Stricher vom Bahnhof Maloche | |
In Deutschland wächst die Szene der Arbeitssüchtigen und damit das Elend | |
der feierabendlosen Abhängigen. Ein tiefer Einblick ins Junkie-Milieu. | |
Die Wahrheit: Kunst bei Tempo 180 | |
Ein Workshop für Vielfahrer an einer Autobahnraststätte bei Remscheid gibt | |
die Kunst in die Hände der Autofahrer zurück. | |
Die Wahrheit: Die Volatilität der Barsche | |
Wege aus der Coronakrise und aus Putins Krieg: Tiere vermitteln | |
Führungsqualitäten. Eine besondere Art der Unternehmensberatung. |