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# taz.de -- Die Wahrheit: Wir Stricher vom Bahnhof Maloche
> In Deutschland wächst die Szene der Arbeitssüchtigen und damit das Elend
> der feierabendlosen Abhängigen. Ein tiefer Einblick ins Junkie-Milieu.
Bild: Unter aller Augen weitet sich die Arbeitssucht aus
Es sind tragische Szenen, die sich am Dortmunder Hauptbahnhof abspielen.
Ein Mann in Hemd und Sneakers mit gepflegtem Vollbart lungert am
Gleisaufgang herum. Als eine Reisende vorbeieilt, stellt er ihr ein Bein.
Sie schreit auf, stolpert und landet auf dem Boden. Der Mann hilft ihr
wieder hoch und reicht die Tasche an.
„Ich möchte mit Ihnen an Ihren Zielen arbeiten“, sagt er und beißt sich
nervös auf die Unterlippe. „Bitte“, schiebt er nach. Seine Augenlider
zucken. „Was soll der Scheiß, du Idiot? Ich verpasse meinen Zug!“, ruft die
Frau und schubst ihn weg. Dann hechtet sie die Treppen zum Gleis hoch.
„Aber wir haben noch gar nicht ihre KPIs definiert!“, ruft der Mann ihr
hinterher. Dann sinkt er in sich zusammen.
„Das ist Lenny. 42 Jahre alt, Businesscoach. Einer der Neuzugänge“, seufzt
Sozialarbeiter Gabriel van Lykke, der einige Meter entfernt steht. Van
Lykke ist Mitte 30. Ein Kumpeltyp im Karohemd, mit Glatze und schiefem
Grinsen. „Die Szene wächst wahnsinnig schnell. Es werden immer mehr“, sagt
er.
Der Sozialarbeiter ist jeden Tag im Bahnhof unterwegs und versucht,
Betroffenen Hilfe anzubieten. Es sind Arbeitssüchtige. Sie kommen aus den
unterschiedlichsten Branchen. Tagsüber verausgaben sie sich in regulären
Jobs. In den Randzeiten am frühen Morgen oder späten Abend hängen sie am
Bahnhof ab. „Immer auf der Suche nach dem nächsten Job, der nächste
Aufgabe, dem einen Incentive on top“, erklärt van Lyyke. Sie essen wenig,
schlafen kaum. Alles dreht sich um Arbeit. Längst sind die Süchtigen zu
einem Problem geworden. Sie belästigen Reisende und stören den Betrieb in
den Bahnhofsgeschäften.
## Nahtoderfahrung Feierabend
Der Wirtschaftswissenschaftler Jordan T. Smithrod hat das Phänomen in
seinem Sachbuch „Arbeitskalypse“ beschrieben. Es gäbe eine wachsende Zahl
an Menschen, für die sei der Feierabend vergleichbar mit einer
Nahtoderfahrung, schreibt er. Es sind Menschen wir Claudia Uhlmann. „Was
wartet zu Hause auf mich? Die Kinder schreien rum, mein Mann will Probleme
besprechen und der Hund hat wieder ins Nachbarbeet gekackt“, erzählt sie
über ihre Freisprecheinrichtung. Claudia sitzt im Auto, denn sie ist, wie
immer, bei der Arbeit.
Die korpulente 45-Jährige ist Teil der Szene am Hauptbahnhof. Sie arbeitet
Vollzeit als Busfahrerin, aber will nicht frei machen, wenn sie den Bus
abends ins Depot gelenkt hat. „Ich fahre die Leute dann halt privat durch
die Gegend. Mir ist egal, wohin“, sagt sie. Im Hintergrund schimpft eine
Männerstimme. Claudia bringt sie mit einem gebellten „Während der Fahrt
nicht mit der Fahrerin sprechen!“ zur Ruhe.
Später wird Sozialarbeiter van Lykke erzählen, gegen die Busfahrerin liefen
mehrere Verfahren wegen Freiheitsberaubung. „Sie lauert am Hinterausgang.
Da zerrt sie ihre Opfer ins Auto und fährt sie stundenlang durch die
Gegend.“ Damit konfrontiert, räumt Claudia „gelegentliche
Kommunikationsprobleme“ mit ihren Fahrgästen ein. Doch als ausgebildete
Busfahrerin wüsste sie nun einmal am besten, wohin die Leute wirklich
wollten.
Sozialarbeiter van Lykke nippt an seinem dritten Pappbecher-Kaffee und
erklärt, die Süchtigen seien nicht kompatibel mit einem gewöhnlichen
Acht-Stunden-Arbeitstag. „Du kriegst die nicht trocken. Du musst ihnen die
Überstunden lassen. Aber die zumindest etwas zu reduzieren, das ist mein
Ziel.“
## Verwahrlosung im Nachbargarten
Doch die Sucht nach Arbeit ist stark. Selbst unkonventionelle Methoden
führen oft nicht zum Therapieerfolg. Busfahrerin Claudia hat der
Sozialarbeiter einen Hund organisiert. Doch Claudia hält nichts vom
Gassigehen. Der Hund verwahrlost im Nachbarsgarten. Für Coach Lenny hat van
Lykke einen Gamer-PC besorgt und ihm Accounts bei Online-Shootern erstellt.
Doch statt seine Gegner abzuknallen, diskutiert Lenny mit ihnen über
Top-Level-Leadership-Training und Führungskompetenz.
Lautes Geschrei hallt durch den Dortmunder Hauptbahnhof. Sicherheitskräfte
führen eine junge Frau aus einem Drogeriemarkt. Sie schlägt mit einem Arm
um sich, mit dem anderen drückt sie krampfhaft mehrere Hefte an ihren
schmalen Körper. „Aida ist Germanistin mit Zeitvertrag an der Uni. Die
schiebt locker 60-Stunden-Wochen“, sagt van Lykke. „Das hält sie nicht
davon ab, nach ihren Seminaren den Kassiererinnen die Naturlyrik des 19.
Jahrhunderts näherzubringen. Heute wollte sie eigentlich die letzte
Hausarbeit über Goethes Gesang der Geister über den Wassern besprechen.“
Der Sozialarbeiter lächelt müde. Er erlebt täglich, wie schwer es ist, den
Betroffenen zu helfen, aus dem Teufelskreis Arbeitssucht auszusteigen. Er
nimmt einen letzten Schluck Kaffee. „Wissen Sie“, sagt er, „hätte ich ni…
noch meinen Job als Notfallsanitäter, dann wüsste ich nicht, wie ich von
der Sache abschalten könnte.“
25 Apr 2023
## AUTOREN
Nico Rau
## TAGS
Arbeit
Sucht
Stress
Menschheit
Auto
Coach
Meer
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