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# taz.de -- Die Wahrheit: Wenn der Bock zum Jäger wird
> Jetzt schlagen die ewigen Opfer zurück. Die Tiere bewaffnen sich und
> marodieren in den Wäldern und Städten.
Bild: Gucken unschuldig, sind aber unberechenbar: Hirsche
In Tschechien hat ein Hirschbock eine Gruppe von Jägern entwaffnet. Er sei
einfach auf einen der Männer zugelaufen und habe mit seinem Geweih das
umgehängte Gewehr abgestreift, erzählten die völlig verstörten Jäger.
Seitdem marodiert der Bock mit der Flinte durch den Böhmerwald, und alle
Welt fragt sich, was aus den einst so stolzen tschechischen Jägern geworden
ist.
Ein klassischer Fall von „Victim Blaming“. Mit schwerwiegenden Folgen.
Viele menschlichen Opfer von Tiergewalt schweigen ein Leben lang. Teilen
sie sich mit, ernten sie Spott und Häme. Die Opfer leben zurückgezogen,
versuchen jede Art von Haus- und Wildtier zu meiden. Der unvorsichtige
Blick aus dem Fenster auf die Meise im Apfelbaum ruft traumatische
Erinnerungen hervor. Das süße Katzenfoto bei Whatsapp provoziert
stundenlange Weinkrämpfe.
Thorsten Klöckner hat das selbst erlebt. Deshalb will er helfen. Die Opfer
dürften nicht länger allein gelassen werden. Er hat den Verein Animalis
Preventis e. V. gegründet. Nach 25 Jahren Schweigen über die
schrecklichen Erlebnisse seiner Kindheit. „Kiki sah ja so süß aus. Wer
hätte einen kleinen blauen Wellensittich verdächtigt?“, sagt Thorsten.
Heute weiß er: Es war Stalking.
Der Sittich seiner kleineren Schwester folgte ihm überall hin. „Sobald Kiki
die Klotür hörte, kam der wie der Blitz angeflogen!“ Thorsten beißt sich
auf die Lippen. „Nicht mal da hatte ich Ruhe vor diesem gefiederten
Monster!“ Der 1,95 Meter große Mann mit den breiten Schultern kämpft mit
den Tränen. Mühsam kontrolliert er sich wieder. Das hat er gelernt. Kiki
bestimmt nicht mehr über sein Leben.
## Kein Entkommen
„Diese kalten schwarzen Augen werde ich nie vergessen“, erzählt er mit
leiser Stimme. „Kiki ist immer auf dem Rand vom Waschbecken gelandet. Dann
hat er mich angestarrt. Sich nicht bewegt. Minuten. Stunden. Ich war in
Schockstarre. Hatte keine Kraft, vom Klo aufzustehen.“ Selbst wenn er den
Flur entlangrannte, die Klotür hinter sich zuknallte – es gab kein
Entkommen, erzählt der 37-jährige Bankkaufmann. „Kiki hat sich vor die Tür
gehockt und angefangen, mit seinem spitzen Schnabel gegen die Tür zu
hacken. Tack. Tack. Tack. Tack!“ Doch keiner glaubte ihm. Seine Schwester
lachte ihn aus. Die Eltern bescheinigten ihrem Sohn nur eine blühende
Fantasie.
Thorstens Schulnoten verschlechterten sich. Er ging nicht mehr zum
Fußballtraining. Traf keine Freunde mehr. Schloss sich tagelang in seinem
Zimmer ein. „Meine Eltern meinten, das sei halt normal in der Pubertät.
Irgendwann dachte ich das sogar selbst!“ Damals richtete sich Thorsten in
seiner Angst ein. Verfolgt von einem Wellensittich. Jeden Tag.
Erst vor zwei Jahren, als er seine heutige Lebensgefährtin traf, verstand
Thorsten, was ihm damals zugestoßen war. Denn auch Jasmin Holzkämper ist
Opfer tierischer Gewalt. „Gemobbt von ihrem Kaninchen Otto“, erklärt
Thorsten, während er ihre Hand hält. Jasmin, eine schlanke Frau mit
strengem Pony, holt tief Luft. „Otto war niedlich. Zog seine rosa Nase
immer so kraus, wenn ich sein Kuschelfell gestreichelt habe. Die Möhrchen
knabberte er am liebsten aus meiner Hand.“ Doch nach wenigen Wochen fing es
an.
Plötzlich war da dieser unangenehme Geruch in ihrem Bett. Erst wusste
Jasmin nicht, was es war. Als sie die gelben Verfärbungen auf dem
Kopfkissen entdeckte, der Verdacht: Kaninchenurin. „ ‚Das kann ja mal
passieren‘, dachte ich. ‚Dann habe ich den Bezug gewechselt.‘ “ Einen T…
später war der Geruch wieder da. Jasmin verdrängte die unangenehme
Wahrheit. Otto wirkte zu unschuldig. Also machte die 40-jährige Apothekerin
weiter wie immer. Bis ihre Kolleginnen sie auf der Arbeit ansprachen. Sie
rochen, was Jasmin nicht wahrhaben wollte: Otto urinierte auch auf ihre
Kleidung.
## Tierische Aggressoren
Tragische Einzelfälle? Auf diese Frage reagiert Thorsten mit einem bitteren
Lachen. „Ich bekomme täglich Briefe, E-Mails, Whatsapps, Insta-Storys! Es
kann jedem passieren!“ Selbst vor Bodyshaming schreckten die tierischen
Aggressoren nicht mehr zurück. „Meine Nachbarin wird von ihrer Dackeldame
Daisy penetrant angestarrt, sobald sie eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank
nascht. Nur weil sie nicht die Schlankste ist!“
Es bleibe nicht beim psychischem Missbrauch, betont Thorsten Klöckner. Das
zeige sich an dem Fall in Tschechien. „Jetzt sind wir bei bewaffneten
Übergriffen“, sagt er tonlos. Den Hinweis, der Jäger sei zuerst bewaffnet
gewesen, lässt er nicht gelten. Entscheidend sei, wer die Waffe am Ende im
Geweih trage. „Es sind keine Tiere. Es sind Monster“, raunt Jasmin.
Der tschechische Jäger habe sich gestern bei ihm gemeldet, erzählt
Thorsten. Ihm gehe es schlecht. „Jakub träumt vom Bock. Jede Nacht. Wie er
vor seinem Bett steht. Das Geweih voller Patronengurte. Die Flinte im
Anschlag röhrt das Biest ein heiseres Halali aus der Jagdhölle. Dann drückt
es ab.“
27 Nov 2020
## AUTOREN
Nico Rau
## TAGS
Jagd
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