# taz.de -- Die Wahrheit: Das bürolose Büro | |
> Wenn das Homeoffice in Seuchenzeiten wegen Überbelegung schließt, muss | |
> die Büroarbeit eben draußen auf der Straße erledigt werden. | |
Bild: So beschaulich geht es bei der Heimarbeit selten zu | |
Heiko Schaffrath sitzt im verdreckten Eingang eines McDonald’s auf dem | |
Boden. Verzweifelt scannt er die Gesichter vorbeieilender Passanten. | |
„Julia?“ Aber es ist nicht die Julia aus der Grafikabteilung, sondern nur | |
eine gestresste Mutter mit Zwillingskinderwagen. | |
„Ich brauch doch die Diagramme für meine Powerpoint“, stöhnt Schaffrath u… | |
blickt hilfesuchend zu einem jungen Mann in Jeans und Kapuzenpulli. | |
„Leichte Adaptionsschwierigkeiten. Ganz normal. Heiko ist halt kein Digital | |
Native“, analysiert Juri Westmüller und zeigt dem Mitte-40-Jährigen den | |
Daumen nach oben. Der bricht fast in Tränen aus. | |
Immer mehr Büroarbeiter verzweifeln in diesen schweren Seuchentagen. | |
Einerseits sind sie zu Homeoffice verdonnert, um die Büroarbeit an der | |
Heimatfront aufrechtzuerhalten – andererseits lungern eben dort ihre | |
schulbefreiten Kinder herum und sabotieren den digitalen Workspace nach | |
Kräften. | |
## Übergang ins Digitale | |
Genau da setzt Juri Westmüller an, er hilft Unternehmen bei der „Digital | |
Transition“, also dem Übergang in das digitale Zeitalter. „Gut ist, dass | |
keiner weiß, was das heißt!“, lacht Westmüller, der auch die | |
mittelständische PR-Agentur betreut, für die Heiko Schaffrath als | |
Seniorberater arbeitet. | |
„Es fing relativ harmlos an“, stöhnt Familienvater Schaffrath. „Erst das | |
papierlose Büro. Fanden wir alle gut. Wegen der Umwelt. Zwei Monate später | |
sollten wir dann mit dem computerlosen Büro klarkommen. Das war echt hart. | |
Aber der Zwang zur Büroarbeit in Anwesenheit Minderjähriger ist einfach zu | |
viel! Dann lieber Corona!“ | |
Deswegen hat der 21-jährige Westmüller bei Schaffraths PR-Agentur den, wie | |
er es nennt, „Final Step of Deconstruction“ eingeführt: das bürolose Bür… | |
„Wir gehen an den einzigen Ort, der uns noch zur Verfügung steht: auf die | |
Straße. Street Credibility ist ohnehin der Major Selling Point für jede | |
Werbekampagne“, weiß Westmüller. „Enge Räume, enges Denken!“ Statt im | |
Homeoffice arbeiten alle Mitarbeiter seitdem auf der Straße. | |
Marita Schulze-Bergbrecht, die Sachbearbeiterin der Agentur, spricht einen | |
Geschäftsmann im Maßanzug und mit Atemschutzmaske an. Sie möchte mit ihm | |
das Honorar für freie Texter besprechen. Der Mann erhöht sein Schritttempo, | |
doch Schulze-Bergbrecht ist für ihre Beharrlichkeit bekannt. „450 Euro | |
Tagessatz können wir nicht zahlen!“, beharrt sie. | |
Schulze-Bergbrecht wedelt so penetrant mit einem Blatt vor dem Gesicht des | |
Geschäftsmannes herum, dass der gegen einen Abfalleimer rennt. Er droht mit | |
der Seuchenpolizei. Die Sachbearbeiterin schüttelt verständnislos den Kopf. | |
„Wenn wir nicht sparen, haben Sie die längste Zeit Armani-Schutzanzüge | |
getragen!“, zischt sie und wendet sich einem Paar zu, das die Plastikbeine | |
seiner Schutzanzüge rafft und das Weite sucht. | |
Juri Westmüller ist dennoch zufrieden: „Neue Wege gehen! Disrupt oder be | |
disrupted! Aim high, lay low. Low light, light flow! Gerade in Zeiten der | |
Pandemie!“ Dann verabschiedet er sich in ein fünftägiges Yoga-Retreat mit | |
Privattrainerin auf seiner Wintergartenterrasse. | |
## Lebensmittelpunkt Verkaufstheke | |
Heiko Schaffrath hat seinen neuen Lebensmittelpunkt jetzt bei McDonald’s | |
gefunden – hinter der Verkaufstheke. Er sei da so reingerutscht, murmelt | |
Schaffrath entschuldigend. Westmüller lobt ihn. „So lernst du, wie es ist, | |
in einem Job zu arbeiten, der sehr bald wegrationalisiert sein wird. | |
Burgerbrater sind das Google Plus der zwanziger Jahre!“ | |
Sachbearbeiterin Marita Schulze-Bergbrecht saß zwischenzeitlich in | |
Quarantänehaft wegen Verstoßes gegen die Seuchenanordnungen, wiederholter | |
Erregung öffentlichen Ärgernisses und Widerstand gegen | |
Vollstreckungsbeamte. Tragischerweise hat sie auch ihre Wohnung verloren. | |
Verwirrt und mit schmutziger Kleidung hockt sie auf einer Parkbank in der | |
Fußgängerzone und zählt unablässig Honorarsätze für freie Mitarbeiter auf. | |
Tauben picken zu ihren Füßen. | |
Die Stimmung im Team ist auf dem Tiefpunkt, aber Digital-Coach Westmüller | |
ist zufrieden. „Jetzt sind Heiko und Marita frei von ihren gewohnten | |
Routinen!“ Er zitiert den Seniorberater und die Sachbearbeiterin zu einem | |
Pitch in die Fußgängerzone. | |
Schaffrath kommt nicht. Er lässt ausrichten, dass er Anweisung von der | |
Konzernleitung erhalten hat, die Burger künftig im Homeoffice zu braten. | |
Sachbearbeiterin Schulze-Bergbrecht sitzt unterdes stoisch auf ihrer Bank. | |
Westmüller unterbreitet ihr, dass sie ab sofort in freier Mitarbeit als | |
Influencerin für die PR-Agentur arbeitet. Unter dem Namen „Pigeon Princess“ | |
soll sie hauseigene Werbekampagnen viral begleiten. | |
Schulze-Bergbrecht kichert leise vor sich hin und wirft Westmüller ein paar | |
Körner zu: „Viral. Der Virus“, murmelt sie vor sich hin. Der Coach weiß: | |
Digitaler Wandel geht einfach nicht ohne Verluste. | |
17 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Nico Rau | |
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