Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Streit um Israel: Die, die es betrifft
> Als Amnesty die Palästinapolitik Israels „Apartheid“ nannte, war die
> Empörung riesig. Eine Reise zu Menschen, die das leben, worüber andere
> streiten.
Bild: Straßenszene in Hebron, hier war früher ein Fruchtmarkt
Ahmad Juha kann die Wanderer auf dem Israel-Trail erkennen, wenn sie
Dschisr az-Zarqa passieren. Nicht nur an ihren Wanderrucksäcken, mit denen
sie das Land Israel vom südlichen Zipfel Eilat bis in den Kibbutz Dan im
Norden durchqueren, sondern auch an ihren ängstlichen Gesichtern, mit denen
sie sich in der arabischen Stadt umsehen.
Dschisr az-Zarqa ist die einzige israelisch-arabische Stadt, die am Meer
liegt – und eine der ärmsten Städte des Landes. Spielplätze sucht man hier
vergeblich. Hunde spielen zwischen Häusern in Geröll, ab und zu ragt eine
unfertige Mauer von einer Hauswand hervor. Um die achtzig Prozent der
Bewohner*innen von Dschisr az-Zarqa leben unter der Armutsgrenze.
Für den 51-jährigen Juha ist klar: Dass die Stadt in einem solchen Zustand
ist, liegt an der Diskriminierung durch den Staat. Die
Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschrieb die
Ungleichbehandlung [1][in einem Bericht] vom Februar unter dem Titel:
[2][„Israels Apartheid gegen die Palästinenser“].
In den internationalen Medien flammten Diskussionen auf. „Antisemitismus!“,
riefen die einen, „Endlich sagt’s einer!“ die anderen. Amnesty
International war nicht die erste Organisation, die die israelische Politik
gegenüber den Palästinenser*innen als Apartheid bezeichnete. Die
israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem und die
Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch taten es bereits vor ihnen.
Doch was in den Debatten um den Begriff Apartheid oft ausgespart blieb,
waren die Stimmen derjenigen, die davon betroffen sind, worüber gestritten
wurde: die Palästinenser*innen. Wie denken und sprechen sie über ihre
Situation – und was halten sie vom Apartheid-Begriff? Betreibt Israel aus
ihrer Sicht eine Politik der Trennung, wie sie die weiße Regierung in
Südafrika gegenüber Schwarzen betrieben hat?
Ahmad Juha steht an einer holzvertäfelten Theke im Inneren eines hellblau
angestrichenen Hauses. „Juha’s Guesthouse“ steht draußen in blau-orangen…
Schrift auf einem weißen Holzschild. Vor sieben Jahren trat der Unternehmer
an, das Image der Stadt Dschisr az-Zarqa zu verändern, und eröffnete das
Hostel. Von einer schweren Espressomaschine auf der Theke zieht Kaffeeduft
herüber.
„Eineinhalb Millionen Touristen besuchen jedes Jahr Caesarea“, sagt der
51-Jährige und zeigt Richtung Süden. Caesarea grenzt an Dschisr az-Zarqa
und ist die wohl reichste Wohngegend Israels. Auch Ex-Premier Benjamin
Netanjahu hat dort eine Villa: „Wir haben Ruinen des Aquädukts wie
Caesarea. Wir sind Teil vom Carmelstrand, sind die einzige arabische Stadt
Israels, die direkt am Meer liegt. Doch uns besucht hier niemand.“ Sein
Hostel ändert wenig daran.
Juha holt Zettel und Stift vom Tresen und macht einen kleinen Kreis in der
Mitte. „Dschisr az-Zarqa platzt aus allen Nähten. Wir sind quasi
eingekesselt“, erklärt er. Er malt einen Bogen unterhalb des Kreises und
zeigt Richtung Süden: „Dort liegt Caesarea. Hier nach Norden liegt der
Kibbutz Maagan Michael“, er zieht einen Bogen nach oben, „auch direkt an
unserem Gebiet.“
Ahmad malt einen weiteren Bogen rechts von Dschisr az-Zarqa: „Beit Hanania.
1.500 Einwohner auf der doppelten Fläche von unserer.“ Dazwischen ein
Strich von oben nach unten, die Schnellstraße, die das Gebiet von Dschisr
az-Zarqa nach Osten hin abgrenzt. Links von allem malt er Wellen. Das Meer.
Eine Abfahrt zur Schnellstraße hat Dschisr az-Zarqa nicht. Wer von dort mit
dem Auto auf die Schnellstraße will, muss zum Kibbutz oder nach Caesarea
fahren. Es ist, als existiere die Stadt gar nicht.
„Vor der Gründung des Staates Israel 1948 gehörte das Land uns“, erklärt…
und umkreist alle Orte: „Caesarea, Beit Hanania und Kibbutz Maagan Michael
sind nach der Gründung des Staats auf unserer Erde gebaut worden.“
1948 ist die wohl wichtigste Jahreszahl, wenn man mit palästinensischen
Israelis über die Frage spricht, ob in Israel Apartheid herrscht. 1948 ist
das Jahr der israelischen Staatsgründung und des Kriegs zwischen
Jüd*innen und Araber*innen. Im palästinensischen Diskurs wird der
Krieg und die daraus folgende Vertreibung und Flucht als [3][nakba]
bezeichnet, auf Deutsch: die Katastrophe.
Kurz nach der Staatsgründung hat ein Gesetz die Eigentumsverhältnisse dort
neu sortiert: Das „Gesetz über das Eigentum von Abwesenden“ aus dem Jahr
1950 regelt den Umgang mit dem Land von Palästinenser*innen, die
während des Kriegs das Land verlassen haben. Ihr Land wurde Eigentum des
Staates Israel.
Platz, um sich zu entwickeln, hat Dschisr az-Zarqa nicht. „Wenn jemand eine
Familie gründet, müssen wir hier links, rechts, obendrauf, daneben,
irgendwie anbauen.“ Er zeigt auf ein Haus gegenüber des Hostels: „Acht
Familien wohnen da drin.“
Vor eineinhalb Jahren hat in Dschisr az-Zarqa eine Polizeistation geöffnet.
„Eigentlich eine gute Sache, um der Kriminalität hier zu begegnen“, sagt
Juha. Aber der Ort, an dem sie gebaut wurde, macht ihn skeptisch. Er fügt
auf seiner Karte ein Kreuz hinzu, dorthin, wo die Polizeistation steht,
kurz vor dem Meer. Zwischen Polizeistation und Meer zeichnet er ein paar
Hochhäuser ein.
„Hier werden bald Häuser hochgezogen.“ 520 neue Wohnungen sind geplant,
direkt am Strand. Einige von ihnen werden wohl für israelische Verhältnisse
sehr günstig verkauft werden – aber leisten kann es sich dennoch so gut wie
niemand in Dschisr az-Zarqa.
Juha schüttelt seinen Kopf: „Die allermeisten Wohnungen werden für jüdische
Israelis sein.“ Und die Polizeistation? „Wird die bisherige Stadt Dschisr
az-Zarqa von den Neubauten am Meer trennen.“ Juha vermutet, um die
Neubauten zu beschützen. „Intelligente Besatzung“, sagt Juha und tippt mit
seinem Zeigefinger an die Schläfe. Welches Wort man für die
Ungleichbehandlung benutzt – Diskriminierung, Unterdrückung, Apartheid –
ist ihm egal.
Vom Meer tief ins Land, rein ins von Israel besetzte Westjordanland zu
Manal Jabari nach Hebron. Auch für sie steht außer Frage, dass sie unter
Apartheid lebt, wenn auch sie wenig für Begriffsdiskussionen übrig hat. Um
zu ihr zu kommen, muss man von Dschisr az-Zarqa gen Süden fahren.
Man lässt zahlreiche Schafherden und Kreuzungen mit israelischen
Soldat*innen hinter sich und begibt sich in die Stadt, die nach
Jerusalem wohl die umkämpfteste ist im israelisch-palästinensischen
Konflikt. Im Zentrum Hebrons liegt die Höhle der Patriarchen, eines der
höchsten Heiligtümer im Judentum wie im Islam. Unter anderem Abraham oder
eben Ibrahim, der als Stammesvater sowohl Israels als auch der Araber gilt,
ist dort begraben.
Jabari lebt in Hebron, sie ist Mitarbeiterin der israelischen
Menschenrechtsorganisation B’Tselem und hilft dabei, Verstöße gegen die
Menschenrechte im Westjordanland zu dokumentieren.
Hebron ist die einzige Stadt im Westjordanland, in deren Herzen jüdische
Siedler*innen leben. Im [4][Friedensabkommen] Oslo II aus dem Jahr 1995
wurde geregelt, dass sich das israelische Militär aus den Städten des
Westjordanlands zurückzieht. Doch angesichts der Siedler*innen in der
Stadt wurde für Hebron eine andere Regelung gefunden: Das israelische
Militär blieb. Die Stadt wurde in zwei Gebiete aufgeteilt: Die Altstadt mit
der Höhle der Patriarchen und des Markts wurde unter israelische Kontrolle
gestellt; die Außengebiete der Stadt unterliegen palästinensischer
Verwaltung.
Von 2002 bis 2012 lebte Jabari in der Altstadt. Seit Jahren war sie nicht
mehr hier, heute aber steht sie wieder vor der gelben Holztür und erinnert
sich an ihre Angst in dem Haus, in dem sie ihre sieben Kinder geboren und
aufgezogen hat. Schwer zu glauben, dass jemand aus diesem Haus voll
mittelalterlicher Romantik ausziehen möchte – mit den steinernen Bögen über
den Fenstern, den Steintreppen und den umliegenden verwinkelten Gassen, die
nachts von eisernen Laternen beleuchtet werden.
Doch dann erzählt Jabari, wie es dort war, wenn israelische Soldat*innen
über das Dach in ihre Wohnung einstiegen, mehrfach passierte das. Die
Dächer der Altstadt Hebrons hängen zusammen, die Soldat*innen können
dort durch Luken eintreten, einfach so. „Einmal kamen sie, als wir
schliefen, schlossen uns in ein Zimmer, machten Lärm.“ Kurz danach seien
sie wieder abgezogen. Aus Sicherheitsgründen, habe es geheißen.
„Hausdurchsuchungen sind eine der am weitest verbreiteten militärischen
Operationen“, sagt Avner Gvaryahu, Ko-Direktor der Organisation Breaking
the Silence, die 2004 von israelischen Ex-Soldat*innen gegründet wurde und
über das militärische Vorgehen in den besetzten Gebieten informiert.
„Manchmal dienen diese Einbrüche dazu, strategische Ausblicke zu erhalten,
manchmal dazu, jemanden zu verhaften oder Informationen über die Bewohner
zu gewinnen. Was wir aber beim Sammeln von Zeugenaussagen gesehen haben: Es
geht viel weniger um ein Sicherheitsbedürfnis, als vielmehr darum, den
Palästinensern das Gefühl zu geben, dass sie verfolgt oder kontrolliert
werden. Was all diese Hausinvasionen verbindet, ist die Idee, unsere
Präsenz spürbar zu machen.“
Es war nicht immer so in Hebron.
Jabari verbrachte ihre Kindheit in den verwinkelten Gassen der Altstadt,
spielte dort, kaufte Gemüse und Obst. Spannungen zwischen Jüd*innen und
Palästinenser*innen gab es zwar, seitdem die ersten Siedler*innen
nach Hebron gekommen waren. Doch Jabari erinnert sich, dass ab und zu die
Kinder von jüdischen Siedler*innen zu ihr und ihrer Familie kamen, nach
arabischen Süßigkeiten fragten und kurz darauf glücklich mit Baklava im
Mund zurück auf die Straße zogen.
## Zeitenwende 1994
„Geändert hat sich alles im Februar 1994“, erklärt Jabari. Der jüdische
Extremist Baruch Goldstein drang in die muslimische Seite der Höhle der
Patriarchen ein, einen der heiligsten Orte für Jüd*innen und Muslime.
Mit einem Sturmgewehr eröffnete er das Feuer auf muslimische Betende,
tötete 29 und verletzte mehr als 100.
In Folge brachen in Hebron wie im gesamten Westjordanland Unruhen aus, bei
denen zahlreiche Palästinenser*innen durch das israelische Militär
getötet wurden. Im April 1994 verübten Palästinenser innerhalb Israels zwei
Selbstmordattentate als Vergeltung für das von Goldstein verübte Massaker.
Das israelische Militär verhängte eine Ausgangssperre über die Stadt
Hebron, schloss Teile des Markts vorübergehend, andere für immer.
Heute ist es schwer, den Überblick zu behalten, wer sich wo wie bewegen
darf. 21 Checkpoints sind quer über die Innenstadt verteilt. Als Jabari mit
ihrer Familie noch in der Altstadt lebte, mussten ihre Kinder jedes Mal auf
dem Weg zur Schule einen davon passieren. Manchmal, wenn das israelische
Militär ihn schloss, konnten sie nicht zur Schule oder mussten stundenlang
warten.
Ebenso verwirrend sind die Bestimmungen, wer sich wo aufhalten darf. Einige
Straßen dürfen die Palästinenser*innen nicht betreten, in anderen
dürfen sie zu Fuß gehen, nicht aber mit ihrem Auto fahren. Wieder andere
dürfen Palästinenser*innen nur betreten, wenn sie dort wohnen. Und
schließlich gibt es einige Straßen, die nur Palästinenser*innen, nicht aber
Israelis, betreten dürfen. Auch diese werden allerdings von der
israelischen Armee kontrolliert.
„Seit der Teilung der Stadt mit dem sogenannten Hebron-Abkommen kann man
einen permanenten Wegzug von Palästinenser*innen aus der Altstadt
beobachten“, erklärt Dror Sadot, Sprecherin von B’Tselem: „Sie werden
gezwungen umzuziehen, vor allem aufgrund der Gewalt vonseiten der Siedler
und der israelischen Armee und der zahlreichen Checkpoints.“
Jabari macht sich auf den Weg, um ein weiteres Beispiel für die
Diskriminierung zu liefern. Sie läuft durch die Gassen der Altstadt –
vorbei an Ständen, die versuchen, den Markt wiederzubeleben, den wenigen
Tourist*innen Keramiktassen, Tücher und Gläser anzudrehen. Einige
hundert Meter weiter kommt sie an einer Schranke zum Stehen.
„Die Al-Shuhada-Straße“, sagt sie und zeigt die Straße hinunter: „Sie w…
mal die Hauptstraße des Markts.“ Ein einsamer Jogger mit gehäkelter Kippa �…
einer Kippa, die von Siedlern getragen wird – läuft seine Runden. Einige
Autos mit den gelben israelischen Nummernschildern stehen neben
Hauseingängen und verrammelten Eisentüren. Die Straße wurde nach dem
Massaker für Palästinenser*innen geschlossen.
Um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, sagte die israelische
Regierung. Viele Palästinenser*innen wiederum sagen, sie müssten nun
für ein Massaker bezahlen, das ein Israeli an ihnen begangen hatte. Die
Schließung der Straße und die anderen Maßnahmen seien eine Schikane des
Staats. „Apartheid-Straße nennen wir sie“, erklärt Jabari.
## Kein Durchkommen
Zwei Soldat*innen mit umgehängten Maschinengewehren kommen hinter der
Schranke auf Jabari zu. Sie zeigt ihnen ihren palästinensischen Pass, die
Soldat*innen schütteln den Kopf. „Nein, es ist nicht angenehm, Menschen
zu kontrollieren und sie davon abzuhalten, weitergehen zu können“, sagt
einer: „Aber wir machen das, um den Frieden hier zu halten.“
Einige Meter hinter der Schranke läuft ein junger Mann die Straße hinauf
und stellt sich als Or Chaim vor. Er ist einer von rund 700 Siedler*innen,
die laut Schätzungen von B’Tselem derzeit im Herzen von Hebron leben. „Ich
bin froh, hier in der Jeschivat Shavei Hevron studieren zu dürfen“,
erzählt er. „Die Rückkehrer nach Hebron“, heißt der Name dieser Tora-Sch…
übersetzt.
„Wir bringen jüdisches Leben zurück in diese Stadt, schon vor dreitausend
Jahren waren wir hier. Das ist ziemlich aufregend, und ich bin stolz
darauf.“ Dass Palästinenser*innen hier nicht überall langgehen
dürfen, findet er bedauernswert. „Aber es gibt hier ja auch Orte, an die
ich nicht darf.“
Zurück in Israel, in Jaffa, einem arabisch-jüdisch gemischten Stadtteil von
Tel Aviv. Dort hört man zwei Sorten von Antworten auf die Apartheid-Frage.
Die eine kommt von einem grauhaarigen Hummusladenbesitzer in der
Yefet-Straße. Er zitiert ein arabisches Sprichwort. „Wer deine Mutter
heiratet, den nennst du ‚Vater‘.“ Er hebt die Augenbrauen und ergänzt: �…
Staat hier ist mein Vater.“ Vielleicht ist der Staat Israel nicht sein
eigentlicher Vater, soll das heißen, doch er akzeptiert ihn als solchen.
Geboren ist der 71-Jährige drei Jahre nach der Staatsgründung. „Ich habe
mit jüdischen Kindern gespielt, bin mit ihnen zur Schule gegangen, und
einige von ihnen sind noch heute meine Freunde. Ich lebe gut hier“, sagt er
und ergänzt: „Wir leben gut hier, haben eine Krankenversicherung wie alle,
wir haben genug zu essen. Radikale gibt es überall.“ Dann steht er auf,
grüßt freundlich und hilft einem Lastwagenfahrer dabei, Waren abzuladen.
Für Michel Elraheb ist genau das ein Teil von Apartheid: „Den
Palästinensern wird vermittelt, dass sie ein gutes Leben leben, obwohl sie
diskriminiert werden.“ Der 61-Jährige sitzt in seinem Buchladencafé Yafa.
Die Straße hinunter liegt die Altstadt Jaffas. In Nicht-Coronazeiten
stromern dort Tourist*innen durch die Altstadt, essen Eis und trinken
Cocktails. Jüdische Künstler*innen haben dort ihre Ateliers und
Galerien. Fährt man die Yefet-Straße in die andere Richtung, gelangt man
nach Ajami, den südlicheren, stärker arabisch geprägten Teil Jaffas. Dort
hat die Gentrifizierung noch nicht vollends zugeschlagen.
Zwischen diesen beiden Teilen hat Elraheb vor knapp zwanzig Jahren mit
einer Geschäftspartnerin ein Café eröffnet und Bücher in die Regale
gestellt, die von jüdisch-arabischer Koexistenz erzählen. Ein Band des
jüdischen Autors Franz Kafka steht neben einem Gedichtband des
palästinensischen Nationaldichters Mahmud Darwisch. Der Ort hat sich
schnell zu einem arabisch-jüdischen Intellektuellentreff entwickelt.
Buchvorstellungen finden hier statt, politische Diskussionsrunden,
Kulturabende.
„Wer die Geschichte macht, hat die Macht“, sagt Elraheb: „Die Frage ist
immer: Wessen Geschichte wird erzählt?“ Verstanden hat er das als Junge in
der siebten Klasse. Zu Hause wiederholte er mit seiner Mutter den Stoff aus
dem Geschichtsunterricht. Die Juden seien ins unbewohnte Israel gekommen,
hätten mithilfe von Eukalyptusbäumen das Land trockengelegt und bewohnbar
gemacht. Seine Mutter, erinnert er sich, lächelte: „Und wir?“, habe sie
gesagt: „Woher kommen wir? Wir waren doch schon hier.“ Dann fügte sie
hinzu: „Schreib im Test das, was im Buch steht.“
Heute ist Elraheb klar: Die Diskriminierung gegenüber den palästinensischen
Israelis fängt im Kindesalter an. Das Problem für ihn ist die systematische
Unterdrückung durch den Staat: Das ist für ihn Apartheid.
Er zeigt auf die Kreuzung vor dem Café. „Hier sperrte die Polizei im
letzten Mai Jaffa ab.“ Also während des Kriegs zwischen Israel und dem von
der militanten Hamas regierten Gazastreifen. Als es in Jaffa wie in anderen
arabisch-jüdischen Städten Zusammenstöße zwischen jüdischen und
palästinensischen Israelis gab, Autos in Flammen aufgingen und Menschen
beider Seiten starben. „Kontrolliert wurden nur wir, die palästinensischen
Israelis“, sagt Elraheb: „Oder alle, die palästinensisch aussahen.“ So w…
viele palästinensische Israelis hatte er zu der Zeit besonders stark das
Gefühl: Der Staat ist gegen sie.
Als Jaffa kurz vor der Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 kapitulierte,
lebten von 70.000 Araber*innen nur noch etwa 3.000 dort. Den anderen
wurde durch das „Abwesenheitsgesetz“ von 1950 wie in Dschisr az-Zarqa eine
Rückkehr unmöglich gemacht: Die verlassenen palästinensischen Häuser
gerieten in die Hände des Staats und wurden der Wohnungsgesellschaft Amidar
übergeben.
Erweiterungen oder Reparaturen von bestehenden Gebäuden wurden untersagt,
so dass die Bewohner*innen gezwungen waren, Reparaturen ohne
Genehmigung durchzuführen. Amidar stellte eine Reihe von Räumungsbescheiden
aus, die allerdings lange vor sich hin staubten. Doch nun gehen die
Immobilienpreise in Ajami mit den prachtvollen Bauten mit Blick aufs Meer
durch die Decke, und die Wohnungsbaugesellschaft holt die Räumungsbescheide
wieder hervor.
Ist das alles Apartheid? Die Debatte darum wird in westlichen Ländern und
unter der jüdischen Bevölkerung Israels erhitzt geführt. Doch die meisten
Palästinenser*innen in Dschisr az-Zarqa, Hebron und Jaffa
interessiert vor allem eines: Dass ihre Situation, wie auch immer die
internationale Gemeinschaft sie bezeichnen möge, in der Welt bekannt wird.
Denn das, worüber andere debattieren, ist ihr Leben.
19 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2022/02/israels-system-of-apart…
[2] /Menschenrechtsorganisation-ueber-Israel/!5829584
[3] /Nakba/!t5631255
[4] /25-Jahre-Osloer-Friedensabkommen/!5532631
## AUTOREN
Judith Poppe
## TAGS
Apartheid
Westjordanland
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Palästina
Hebron
Tel Aviv
GNS
Podcast „Vorgelesen“
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Westjordanland
Jair Lapid
Siedlungen
Gaza
Naftali Bennett
Israel
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Israel-Palästina-Konflikt: Journalistin in Jenin erschossen
Eine Al-Jazeera-Journalistin wird im Westjordanland getötet. Augenzeugen
berichten, dass Israels Militär schoss; die beschuldigen militante
Palästinenser.
Israelisch-Palästinensische Gesellschaft: „Wir teilen den gleichen Schmerz“
Am Yom HaZikaron gedenkt Israel seiner getöteten Bürger:innen,
Palästinenser:innen bleiben außen vor. Ein alternativer Gedenktag
gibt beiden Seiten Raum zum Trauern.
Israel-Palästina-Konflikt: Weiter Konflikte auf dem Tempelberg
Militante Palästinenser werfen Steine, die israelische Polizei dringt auf
den Tempelberg. Gegenseitige Provokationen sorgen für weitere Spannungen.
Eskalation um den Tempelberg: Auf den Marsch folgen Raketen
Rechte Israelis marschieren durch Jerusalem. Militante Palästinenser
schießen eine Rakete aus Gaza, Israels Militär zerstört einen
Hamas-Stützpunkt.
Nach Konflikt auf dem Tempelberg: Raketen aus und auf Gaza
Auf eine Rakete aus Gaza antwortet Israel mit Bomben. Es ist die jüngste
Eskalation seit den vier Anschlägen in Israel der letzten Wochen.
Konflikt mit Palästina: Erneuter Anschlag in Israel
Zwei Menschen sterben beim zweiten Terrorakt der Woche in Israel. Die
Angreifer waren wohl IS-Anhänger, militante Organisationen applaudieren.
Treffen von Israel und arabischen Staaten: Neue Freunde zu Besuch
Israel empfängt erstmals gleich vier Außenminister arabischer Staaten. Mit
dem US-Außenminister senden sie ein Signal an Iran und die Palästinenser.
Haltung Israels zum Ukrainekrieg: Sei einfach ein Mensch
In Israel gibt es viele, die Putin unterstützen, auch in Erinnerung an
Pogrome in der Ukraine. Aber historische Rechnungen sind dumm.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.