| # taz.de -- Streit um Israel: Die, die es betrifft | |
| > Als Amnesty die Palästinapolitik Israels „Apartheid“ nannte, war die | |
| > Empörung riesig. Eine Reise zu Menschen, die das leben, worüber andere | |
| > streiten. | |
| Bild: Straßenszene in Hebron, hier war früher ein Fruchtmarkt | |
| Ahmad Juha kann die Wanderer auf dem Israel-Trail erkennen, wenn sie | |
| Dschisr az-Zarqa passieren. Nicht nur an ihren Wanderrucksäcken, mit denen | |
| sie das Land Israel vom südlichen Zipfel Eilat bis in den Kibbutz Dan im | |
| Norden durchqueren, sondern auch an ihren ängstlichen Gesichtern, mit denen | |
| sie sich in der arabischen Stadt umsehen. | |
| Dschisr az-Zarqa ist die einzige israelisch-arabische Stadt, die am Meer | |
| liegt – und eine der ärmsten Städte des Landes. Spielplätze sucht man hier | |
| vergeblich. Hunde spielen zwischen Häusern in Geröll, ab und zu ragt eine | |
| unfertige Mauer von einer Hauswand hervor. Um die achtzig Prozent der | |
| Bewohner*innen von Dschisr az-Zarqa leben unter der Armutsgrenze. | |
| Für den 51-jährigen Juha ist klar: Dass die Stadt in einem solchen Zustand | |
| ist, liegt an der Diskriminierung durch den Staat. Die | |
| Menschenrechtsorganisation Amnesty International beschrieb die | |
| Ungleichbehandlung [1][in einem Bericht] vom Februar unter dem Titel: | |
| [2][„Israels Apartheid gegen die Palästinenser“]. | |
| In den internationalen Medien flammten Diskussionen auf. „Antisemitismus!“, | |
| riefen die einen, „Endlich sagt’s einer!“ die anderen. Amnesty | |
| International war nicht die erste Organisation, die die israelische Politik | |
| gegenüber den Palästinenser*innen als Apartheid bezeichnete. Die | |
| israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem und die | |
| Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch taten es bereits vor ihnen. | |
| Doch was in den Debatten um den Begriff Apartheid oft ausgespart blieb, | |
| waren die Stimmen derjenigen, die davon betroffen sind, worüber gestritten | |
| wurde: die Palästinenser*innen. Wie denken und sprechen sie über ihre | |
| Situation – und was halten sie vom Apartheid-Begriff? Betreibt Israel aus | |
| ihrer Sicht eine Politik der Trennung, wie sie die weiße Regierung in | |
| Südafrika gegenüber Schwarzen betrieben hat? | |
| Ahmad Juha steht an einer holzvertäfelten Theke im Inneren eines hellblau | |
| angestrichenen Hauses. „Juha’s Guesthouse“ steht draußen in blau-orangen… | |
| Schrift auf einem weißen Holzschild. Vor sieben Jahren trat der Unternehmer | |
| an, das Image der Stadt Dschisr az-Zarqa zu verändern, und eröffnete das | |
| Hostel. Von einer schweren Espressomaschine auf der Theke zieht Kaffeeduft | |
| herüber. | |
| „Eineinhalb Millionen Touristen besuchen jedes Jahr Caesarea“, sagt der | |
| 51-Jährige und zeigt Richtung Süden. Caesarea grenzt an Dschisr az-Zarqa | |
| und ist die wohl reichste Wohngegend Israels. Auch Ex-Premier Benjamin | |
| Netanjahu hat dort eine Villa: „Wir haben Ruinen des Aquädukts wie | |
| Caesarea. Wir sind Teil vom Carmelstrand, sind die einzige arabische Stadt | |
| Israels, die direkt am Meer liegt. Doch uns besucht hier niemand.“ Sein | |
| Hostel ändert wenig daran. | |
| Juha holt Zettel und Stift vom Tresen und macht einen kleinen Kreis in der | |
| Mitte. „Dschisr az-Zarqa platzt aus allen Nähten. Wir sind quasi | |
| eingekesselt“, erklärt er. Er malt einen Bogen unterhalb des Kreises und | |
| zeigt Richtung Süden: „Dort liegt Caesarea. Hier nach Norden liegt der | |
| Kibbutz Maagan Michael“, er zieht einen Bogen nach oben, „auch direkt an | |
| unserem Gebiet.“ | |
| Ahmad malt einen weiteren Bogen rechts von Dschisr az-Zarqa: „Beit Hanania. | |
| 1.500 Einwohner auf der doppelten Fläche von unserer.“ Dazwischen ein | |
| Strich von oben nach unten, die Schnellstraße, die das Gebiet von Dschisr | |
| az-Zarqa nach Osten hin abgrenzt. Links von allem malt er Wellen. Das Meer. | |
| Eine Abfahrt zur Schnellstraße hat Dschisr az-Zarqa nicht. Wer von dort mit | |
| dem Auto auf die Schnellstraße will, muss zum Kibbutz oder nach Caesarea | |
| fahren. Es ist, als existiere die Stadt gar nicht. | |
| „Vor der Gründung des Staates Israel 1948 gehörte das Land uns“, erklärt… | |
| und umkreist alle Orte: „Caesarea, Beit Hanania und Kibbutz Maagan Michael | |
| sind nach der Gründung des Staats auf unserer Erde gebaut worden.“ | |
| 1948 ist die wohl wichtigste Jahreszahl, wenn man mit palästinensischen | |
| Israelis über die Frage spricht, ob in Israel Apartheid herrscht. 1948 ist | |
| das Jahr der israelischen Staatsgründung und des Kriegs zwischen | |
| Jüd*innen und Araber*innen. Im palästinensischen Diskurs wird der | |
| Krieg und die daraus folgende Vertreibung und Flucht als [3][nakba] | |
| bezeichnet, auf Deutsch: die Katastrophe. | |
| Kurz nach der Staatsgründung hat ein Gesetz die Eigentumsverhältnisse dort | |
| neu sortiert: Das „Gesetz über das Eigentum von Abwesenden“ aus dem Jahr | |
| 1950 regelt den Umgang mit dem Land von Palästinenser*innen, die | |
| während des Kriegs das Land verlassen haben. Ihr Land wurde Eigentum des | |
| Staates Israel. | |
| Platz, um sich zu entwickeln, hat Dschisr az-Zarqa nicht. „Wenn jemand eine | |
| Familie gründet, müssen wir hier links, rechts, obendrauf, daneben, | |
| irgendwie anbauen.“ Er zeigt auf ein Haus gegenüber des Hostels: „Acht | |
| Familien wohnen da drin.“ | |
| Vor eineinhalb Jahren hat in Dschisr az-Zarqa eine Polizeistation geöffnet. | |
| „Eigentlich eine gute Sache, um der Kriminalität hier zu begegnen“, sagt | |
| Juha. Aber der Ort, an dem sie gebaut wurde, macht ihn skeptisch. Er fügt | |
| auf seiner Karte ein Kreuz hinzu, dorthin, wo die Polizeistation steht, | |
| kurz vor dem Meer. Zwischen Polizeistation und Meer zeichnet er ein paar | |
| Hochhäuser ein. | |
| „Hier werden bald Häuser hochgezogen.“ 520 neue Wohnungen sind geplant, | |
| direkt am Strand. Einige von ihnen werden wohl für israelische Verhältnisse | |
| sehr günstig verkauft werden – aber leisten kann es sich dennoch so gut wie | |
| niemand in Dschisr az-Zarqa. | |
| Juha schüttelt seinen Kopf: „Die allermeisten Wohnungen werden für jüdische | |
| Israelis sein.“ Und die Polizeistation? „Wird die bisherige Stadt Dschisr | |
| az-Zarqa von den Neubauten am Meer trennen.“ Juha vermutet, um die | |
| Neubauten zu beschützen. „Intelligente Besatzung“, sagt Juha und tippt mit | |
| seinem Zeigefinger an die Schläfe. Welches Wort man für die | |
| Ungleichbehandlung benutzt – Diskriminierung, Unterdrückung, Apartheid – | |
| ist ihm egal. | |
| Vom Meer tief ins Land, rein ins von Israel besetzte Westjordanland zu | |
| Manal Jabari nach Hebron. Auch für sie steht außer Frage, dass sie unter | |
| Apartheid lebt, wenn auch sie wenig für Begriffsdiskussionen übrig hat. Um | |
| zu ihr zu kommen, muss man von Dschisr az-Zarqa gen Süden fahren. | |
| Man lässt zahlreiche Schafherden und Kreuzungen mit israelischen | |
| Soldat*innen hinter sich und begibt sich in die Stadt, die nach | |
| Jerusalem wohl die umkämpfteste ist im israelisch-palästinensischen | |
| Konflikt. Im Zentrum Hebrons liegt die Höhle der Patriarchen, eines der | |
| höchsten Heiligtümer im Judentum wie im Islam. Unter anderem Abraham oder | |
| eben Ibrahim, der als Stammesvater sowohl Israels als auch der Araber gilt, | |
| ist dort begraben. | |
| Jabari lebt in Hebron, sie ist Mitarbeiterin der israelischen | |
| Menschenrechtsorganisation B’Tselem und hilft dabei, Verstöße gegen die | |
| Menschenrechte im Westjordanland zu dokumentieren. | |
| Hebron ist die einzige Stadt im Westjordanland, in deren Herzen jüdische | |
| Siedler*innen leben. Im [4][Friedensabkommen] Oslo II aus dem Jahr 1995 | |
| wurde geregelt, dass sich das israelische Militär aus den Städten des | |
| Westjordanlands zurückzieht. Doch angesichts der Siedler*innen in der | |
| Stadt wurde für Hebron eine andere Regelung gefunden: Das israelische | |
| Militär blieb. Die Stadt wurde in zwei Gebiete aufgeteilt: Die Altstadt mit | |
| der Höhle der Patriarchen und des Markts wurde unter israelische Kontrolle | |
| gestellt; die Außengebiete der Stadt unterliegen palästinensischer | |
| Verwaltung. | |
| Von 2002 bis 2012 lebte Jabari in der Altstadt. Seit Jahren war sie nicht | |
| mehr hier, heute aber steht sie wieder vor der gelben Holztür und erinnert | |
| sich an ihre Angst in dem Haus, in dem sie ihre sieben Kinder geboren und | |
| aufgezogen hat. Schwer zu glauben, dass jemand aus diesem Haus voll | |
| mittelalterlicher Romantik ausziehen möchte – mit den steinernen Bögen über | |
| den Fenstern, den Steintreppen und den umliegenden verwinkelten Gassen, die | |
| nachts von eisernen Laternen beleuchtet werden. | |
| Doch dann erzählt Jabari, wie es dort war, wenn israelische Soldat*innen | |
| über das Dach in ihre Wohnung einstiegen, mehrfach passierte das. Die | |
| Dächer der Altstadt Hebrons hängen zusammen, die Soldat*innen können | |
| dort durch Luken eintreten, einfach so. „Einmal kamen sie, als wir | |
| schliefen, schlossen uns in ein Zimmer, machten Lärm.“ Kurz danach seien | |
| sie wieder abgezogen. Aus Sicherheitsgründen, habe es geheißen. | |
| „Hausdurchsuchungen sind eine der am weitest verbreiteten militärischen | |
| Operationen“, sagt Avner Gvaryahu, Ko-Direktor der Organisation Breaking | |
| the Silence, die 2004 von israelischen Ex-Soldat*innen gegründet wurde und | |
| über das militärische Vorgehen in den besetzten Gebieten informiert. | |
| „Manchmal dienen diese Einbrüche dazu, strategische Ausblicke zu erhalten, | |
| manchmal dazu, jemanden zu verhaften oder Informationen über die Bewohner | |
| zu gewinnen. Was wir aber beim Sammeln von Zeugenaussagen gesehen haben: Es | |
| geht viel weniger um ein Sicherheitsbedürfnis, als vielmehr darum, den | |
| Palästinensern das Gefühl zu geben, dass sie verfolgt oder kontrolliert | |
| werden. Was all diese Hausinvasionen verbindet, ist die Idee, unsere | |
| Präsenz spürbar zu machen.“ | |
| Es war nicht immer so in Hebron. | |
| Jabari verbrachte ihre Kindheit in den verwinkelten Gassen der Altstadt, | |
| spielte dort, kaufte Gemüse und Obst. Spannungen zwischen Jüd*innen und | |
| Palästinenser*innen gab es zwar, seitdem die ersten Siedler*innen | |
| nach Hebron gekommen waren. Doch Jabari erinnert sich, dass ab und zu die | |
| Kinder von jüdischen Siedler*innen zu ihr und ihrer Familie kamen, nach | |
| arabischen Süßigkeiten fragten und kurz darauf glücklich mit Baklava im | |
| Mund zurück auf die Straße zogen. | |
| ## Zeitenwende 1994 | |
| „Geändert hat sich alles im Februar 1994“, erklärt Jabari. Der jüdische | |
| Extremist Baruch Goldstein drang in die muslimische Seite der Höhle der | |
| Patriarchen ein, einen der heiligsten Orte für Jüd*innen und Muslime. | |
| Mit einem Sturmgewehr eröffnete er das Feuer auf muslimische Betende, | |
| tötete 29 und verletzte mehr als 100. | |
| In Folge brachen in Hebron wie im gesamten Westjordanland Unruhen aus, bei | |
| denen zahlreiche Palästinenser*innen durch das israelische Militär | |
| getötet wurden. Im April 1994 verübten Palästinenser innerhalb Israels zwei | |
| Selbstmordattentate als Vergeltung für das von Goldstein verübte Massaker. | |
| Das israelische Militär verhängte eine Ausgangssperre über die Stadt | |
| Hebron, schloss Teile des Markts vorübergehend, andere für immer. | |
| Heute ist es schwer, den Überblick zu behalten, wer sich wo wie bewegen | |
| darf. 21 Checkpoints sind quer über die Innenstadt verteilt. Als Jabari mit | |
| ihrer Familie noch in der Altstadt lebte, mussten ihre Kinder jedes Mal auf | |
| dem Weg zur Schule einen davon passieren. Manchmal, wenn das israelische | |
| Militär ihn schloss, konnten sie nicht zur Schule oder mussten stundenlang | |
| warten. | |
| Ebenso verwirrend sind die Bestimmungen, wer sich wo aufhalten darf. Einige | |
| Straßen dürfen die Palästinenser*innen nicht betreten, in anderen | |
| dürfen sie zu Fuß gehen, nicht aber mit ihrem Auto fahren. Wieder andere | |
| dürfen Palästinenser*innen nur betreten, wenn sie dort wohnen. Und | |
| schließlich gibt es einige Straßen, die nur Palästinenser*innen, nicht aber | |
| Israelis, betreten dürfen. Auch diese werden allerdings von der | |
| israelischen Armee kontrolliert. | |
| „Seit der Teilung der Stadt mit dem sogenannten Hebron-Abkommen kann man | |
| einen permanenten Wegzug von Palästinenser*innen aus der Altstadt | |
| beobachten“, erklärt Dror Sadot, Sprecherin von B’Tselem: „Sie werden | |
| gezwungen umzuziehen, vor allem aufgrund der Gewalt vonseiten der Siedler | |
| und der israelischen Armee und der zahlreichen Checkpoints.“ | |
| Jabari macht sich auf den Weg, um ein weiteres Beispiel für die | |
| Diskriminierung zu liefern. Sie läuft durch die Gassen der Altstadt – | |
| vorbei an Ständen, die versuchen, den Markt wiederzubeleben, den wenigen | |
| Tourist*innen Keramiktassen, Tücher und Gläser anzudrehen. Einige | |
| hundert Meter weiter kommt sie an einer Schranke zum Stehen. | |
| „Die Al-Shuhada-Straße“, sagt sie und zeigt die Straße hinunter: „Sie w… | |
| mal die Hauptstraße des Markts.“ Ein einsamer Jogger mit gehäkelter Kippa �… | |
| einer Kippa, die von Siedlern getragen wird – läuft seine Runden. Einige | |
| Autos mit den gelben israelischen Nummernschildern stehen neben | |
| Hauseingängen und verrammelten Eisentüren. Die Straße wurde nach dem | |
| Massaker für Palästinenser*innen geschlossen. | |
| Um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, sagte die israelische | |
| Regierung. Viele Palästinenser*innen wiederum sagen, sie müssten nun | |
| für ein Massaker bezahlen, das ein Israeli an ihnen begangen hatte. Die | |
| Schließung der Straße und die anderen Maßnahmen seien eine Schikane des | |
| Staats. „Apartheid-Straße nennen wir sie“, erklärt Jabari. | |
| ## Kein Durchkommen | |
| Zwei Soldat*innen mit umgehängten Maschinengewehren kommen hinter der | |
| Schranke auf Jabari zu. Sie zeigt ihnen ihren palästinensischen Pass, die | |
| Soldat*innen schütteln den Kopf. „Nein, es ist nicht angenehm, Menschen | |
| zu kontrollieren und sie davon abzuhalten, weitergehen zu können“, sagt | |
| einer: „Aber wir machen das, um den Frieden hier zu halten.“ | |
| Einige Meter hinter der Schranke läuft ein junger Mann die Straße hinauf | |
| und stellt sich als Or Chaim vor. Er ist einer von rund 700 Siedler*innen, | |
| die laut Schätzungen von B’Tselem derzeit im Herzen von Hebron leben. „Ich | |
| bin froh, hier in der Jeschivat Shavei Hevron studieren zu dürfen“, | |
| erzählt er. „Die Rückkehrer nach Hebron“, heißt der Name dieser Tora-Sch… | |
| übersetzt. | |
| „Wir bringen jüdisches Leben zurück in diese Stadt, schon vor dreitausend | |
| Jahren waren wir hier. Das ist ziemlich aufregend, und ich bin stolz | |
| darauf.“ Dass Palästinenser*innen hier nicht überall langgehen | |
| dürfen, findet er bedauernswert. „Aber es gibt hier ja auch Orte, an die | |
| ich nicht darf.“ | |
| Zurück in Israel, in Jaffa, einem arabisch-jüdisch gemischten Stadtteil von | |
| Tel Aviv. Dort hört man zwei Sorten von Antworten auf die Apartheid-Frage. | |
| Die eine kommt von einem grauhaarigen Hummusladenbesitzer in der | |
| Yefet-Straße. Er zitiert ein arabisches Sprichwort. „Wer deine Mutter | |
| heiratet, den nennst du ‚Vater‘.“ Er hebt die Augenbrauen und ergänzt: �… | |
| Staat hier ist mein Vater.“ Vielleicht ist der Staat Israel nicht sein | |
| eigentlicher Vater, soll das heißen, doch er akzeptiert ihn als solchen. | |
| Geboren ist der 71-Jährige drei Jahre nach der Staatsgründung. „Ich habe | |
| mit jüdischen Kindern gespielt, bin mit ihnen zur Schule gegangen, und | |
| einige von ihnen sind noch heute meine Freunde. Ich lebe gut hier“, sagt er | |
| und ergänzt: „Wir leben gut hier, haben eine Krankenversicherung wie alle, | |
| wir haben genug zu essen. Radikale gibt es überall.“ Dann steht er auf, | |
| grüßt freundlich und hilft einem Lastwagenfahrer dabei, Waren abzuladen. | |
| Für Michel Elraheb ist genau das ein Teil von Apartheid: „Den | |
| Palästinensern wird vermittelt, dass sie ein gutes Leben leben, obwohl sie | |
| diskriminiert werden.“ Der 61-Jährige sitzt in seinem Buchladencafé Yafa. | |
| Die Straße hinunter liegt die Altstadt Jaffas. In Nicht-Coronazeiten | |
| stromern dort Tourist*innen durch die Altstadt, essen Eis und trinken | |
| Cocktails. Jüdische Künstler*innen haben dort ihre Ateliers und | |
| Galerien. Fährt man die Yefet-Straße in die andere Richtung, gelangt man | |
| nach Ajami, den südlicheren, stärker arabisch geprägten Teil Jaffas. Dort | |
| hat die Gentrifizierung noch nicht vollends zugeschlagen. | |
| Zwischen diesen beiden Teilen hat Elraheb vor knapp zwanzig Jahren mit | |
| einer Geschäftspartnerin ein Café eröffnet und Bücher in die Regale | |
| gestellt, die von jüdisch-arabischer Koexistenz erzählen. Ein Band des | |
| jüdischen Autors Franz Kafka steht neben einem Gedichtband des | |
| palästinensischen Nationaldichters Mahmud Darwisch. Der Ort hat sich | |
| schnell zu einem arabisch-jüdischen Intellektuellentreff entwickelt. | |
| Buchvorstellungen finden hier statt, politische Diskussionsrunden, | |
| Kulturabende. | |
| „Wer die Geschichte macht, hat die Macht“, sagt Elraheb: „Die Frage ist | |
| immer: Wessen Geschichte wird erzählt?“ Verstanden hat er das als Junge in | |
| der siebten Klasse. Zu Hause wiederholte er mit seiner Mutter den Stoff aus | |
| dem Geschichtsunterricht. Die Juden seien ins unbewohnte Israel gekommen, | |
| hätten mithilfe von Eukalyptusbäumen das Land trockengelegt und bewohnbar | |
| gemacht. Seine Mutter, erinnert er sich, lächelte: „Und wir?“, habe sie | |
| gesagt: „Woher kommen wir? Wir waren doch schon hier.“ Dann fügte sie | |
| hinzu: „Schreib im Test das, was im Buch steht.“ | |
| Heute ist Elraheb klar: Die Diskriminierung gegenüber den palästinensischen | |
| Israelis fängt im Kindesalter an. Das Problem für ihn ist die systematische | |
| Unterdrückung durch den Staat: Das ist für ihn Apartheid. | |
| Er zeigt auf die Kreuzung vor dem Café. „Hier sperrte die Polizei im | |
| letzten Mai Jaffa ab.“ Also während des Kriegs zwischen Israel und dem von | |
| der militanten Hamas regierten Gazastreifen. Als es in Jaffa wie in anderen | |
| arabisch-jüdischen Städten Zusammenstöße zwischen jüdischen und | |
| palästinensischen Israelis gab, Autos in Flammen aufgingen und Menschen | |
| beider Seiten starben. „Kontrolliert wurden nur wir, die palästinensischen | |
| Israelis“, sagt Elraheb: „Oder alle, die palästinensisch aussahen.“ So w… | |
| viele palästinensische Israelis hatte er zu der Zeit besonders stark das | |
| Gefühl: Der Staat ist gegen sie. | |
| Als Jaffa kurz vor der Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 kapitulierte, | |
| lebten von 70.000 Araber*innen nur noch etwa 3.000 dort. Den anderen | |
| wurde durch das „Abwesenheitsgesetz“ von 1950 wie in Dschisr az-Zarqa eine | |
| Rückkehr unmöglich gemacht: Die verlassenen palästinensischen Häuser | |
| gerieten in die Hände des Staats und wurden der Wohnungsgesellschaft Amidar | |
| übergeben. | |
| Erweiterungen oder Reparaturen von bestehenden Gebäuden wurden untersagt, | |
| so dass die Bewohner*innen gezwungen waren, Reparaturen ohne | |
| Genehmigung durchzuführen. Amidar stellte eine Reihe von Räumungsbescheiden | |
| aus, die allerdings lange vor sich hin staubten. Doch nun gehen die | |
| Immobilienpreise in Ajami mit den prachtvollen Bauten mit Blick aufs Meer | |
| durch die Decke, und die Wohnungsbaugesellschaft holt die Räumungsbescheide | |
| wieder hervor. | |
| Ist das alles Apartheid? Die Debatte darum wird in westlichen Ländern und | |
| unter der jüdischen Bevölkerung Israels erhitzt geführt. Doch die meisten | |
| Palästinenser*innen in Dschisr az-Zarqa, Hebron und Jaffa | |
| interessiert vor allem eines: Dass ihre Situation, wie auch immer die | |
| internationale Gemeinschaft sie bezeichnen möge, in der Welt bekannt wird. | |
| Denn das, worüber andere debattieren, ist ihr Leben. | |
| 19 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2022/02/israels-system-of-apart… | |
| [2] /Menschenrechtsorganisation-ueber-Israel/!5829584 | |
| [3] /Nakba/!t5631255 | |
| [4] /25-Jahre-Osloer-Friedensabkommen/!5532631 | |
| ## AUTOREN | |
| Judith Poppe | |
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