Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Konsequenzen aus dem Krieg: Kein Platz für Emotionen
> Anstatt langjährige Grundsätze über den Haufen zu schmeißen und übereilt
> zu entscheiden, sollte man prüfen, was sinnvoll und was machbar ist.
Bild: Ölfeld in der Russischen Republik Tatarstan
Das erste Opfer des Krieges sei die [1][Wahrheit], heißt es. Vielleicht
stirbt jedoch die Vernunft zuerst. Nicht nur, weil Krieg an sich
unvernünftig ist. Auch weil aus Angst und Schock eine überbordende
Emotionalität den öffentlichen Diskurs besetzt, die kein guter Ratgeber
ist. Übertriebene Behauptungen treiben überhastete Entscheidungen vor sich
her.
Etwa bei den Sanktionen: Russland hat neulich seine Staatsbilanzen für
Februar veröffentlicht. Ein sehr profitabler Monat, der Überschuss hoch,
weil der Krieg die Energiepreise in die Höhe schnellen lässt. Putins Krieg
wird also durch den Krieg finanziert. Die Lösung wäre einfach. Energie ist
zwar überlebenswichtig, doch würde ein deutscher Boykott keine
katastrophalen Schäden bei uns verursachen – weitaus weniger als jene eines
fortdauernden Krieges.
Die wirtschaftlichen Kosten werden laut Analysten höchstens einige
Prozentpunkte des BIP betragen. Unangenehm, aber nicht katastrophal. Da es
Alternativen zum russischen Öl gibt und Gas hierzulande vor allem zum
Heizen benutzt wird, sollten wir als Frühjahrsputz unser Energie-Abo bei
Putin kündigen.
Bescheidung wäre eine prima Alternative. Letzte Woche hat die
[2][Internationale Energieagentur] einen Plan veröffentlicht, wie wir
massiv Erdöl einsparen können: langsamer fahren, öfter den Zug nehmen, ein
verkehrsfreier Sonntag. Wieso werden solche Maßnahmen nicht in die Wege
geleitet? Könnte es sein, dass der Kapitalismus ausbleibendes
Wirtschaftswachstum mehr fürchtet als den Krieg? Ist Verzicht für uns ein
zu großes Kriegsopfer?
## Eine Flugverbotszone ist illusorisch
Wenn wir schon beim Reinemachen sind: Die bisherigen Sanktionen gegen die
Vermögen russischer Oligarchen sind harmlos. Da diese Kleptokraten,
Kriminelle und Geldwäscher einen Angriffskrieg unterstützen, sind sie
Terroristen, und als ich zuletzt nachsah, verfügte der „Westen“ über sehr
effektive Instrumente, terroristische Vermögen zu beschlagnahmen.
Statt an dieser Schraube zu drehen, wird aufgerüstet, auch rhetorisch. Wer
in Talkshows und Interviews eine Flugverbotszone fordert, sollte sich einen
Tag freinehmen und ein wenig auf den Webseiten recherchieren, die sich –
vor allem auf Englisch – militärischen Fragen widmen. Nicht nur wäre es
logistisch fast unmöglich, es müssten zudem Stellungen in Russland
beziehungsweise Belarus bombardiert werden.
Das würde unweigerlich den Krieg ausweiten und in die Hände der russischen
Propaganda (Nato als Aggressor) spielen. Unsere Politik regiert derweil per
Sonderfonds. 2005 betrugen unsere [3][Militärausgaben 33,3 Mrd. und 2020
52,8 Mrd. Dollar]. Das ist a) sehr viel Geld und b) ein ziemlich rasanter
Anstieg. Trotzdem behaupten reihenweise pensionierte Generäle, die deutsche
Armee sei nicht wehrfähig.
Sind diese [4][ehemaligen Offiziere] für diesen Missstand nicht wenigstens
mitverantwortlich? Und sollte es stimmen, müssten nicht sofort Verfahren
gegen die Zuständigen eingeleitet werden? Für 632,6 Milliarden Dollar in 15
Jahren dürfen wir schon ein wenig Landesverteidigung erwarten.
## Fehler der Armeeführung
Sollten nicht, angesichts dieses Versagens von Politik und Armeeführung,
zunächst in einem demokratischen Prozess die Fehler aufgearbeitet und die
künftigen Prioritäten diskutiert werden? Ist Aufrüstung der richtige Weg?
Wäre es für die Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg nicht sinnvoller,
mit einer derartigen Summe die Folgen eines Boykotts russischen Erdöls und
Gases aufzufangen und die Flüchtlinge zu versorgen?
Zumal sich die Frage stellt, was unsere Landesgrenzen wirklich sichert? Die
Qualität der germanischen Flugabwehr und die Quantität der teutonischen
Munition oder MAD (mutual assured destruction)? Seit ich zurückdenken kann,
wird uns die Logik der atomaren Abschreckung eingetrichtert. Stimmt sie
etwa nicht mehr?
Von manchen wird eifrig ein schneller EU-Beitritt der Ukraine gefordert.
Vorsichtige Stimmen werden der bürokratischen Apathie beschuldigt. Dabei
sind die Gefahren eines überstürzten Aufnahmeverfahrens hinlänglich
bekannt. In manchen Ländern Osteuropas haben die Fördersummen aus Brüssel
die Macht der neuen Plutokraten gestärkt. Bis noch vor einigen Monaten
berichteten europäische Medien über Korruption und Oligarchie in der
Ukraine.
Solche strukturellen Defizite werden weder durch das schreckliche Leid der
Menschen noch den Mut der Kämpfenden überwunden. Wir müssen die Menschen in
der Ukraine entschieden unterstützen, aber das bedeutet nicht, dass wir
die Augen verschließen vor demokratischen Mängeln – auch dort. Zudem wäre
eine überhastete Aufnahme der Ukraine ein katastrophales Signal für den
gesamten Balkan, weiterhin ein Pulverfass.
## Nicht alles Gold in der Ukraine
Leider versprüht ein rabiater Nationalismus sein tägliches Gift, auch
seitens ukrainischer Intellektueller. Wenige Tage nach Kriegsbeginn
forderte etwa der „[5][PEN Ukraine“] gemeinsam mit anderen Institutionen zu
einem „totalen Boykott von Büchern aus Russland auf der ganzen Welt!“ auf,
da „Bücher zu Waffen gegen die Demokratie werden können“. Wie soll man
diesen geistigen Exterminismus widerlegen außer mit einem Satz des
chinesischen Dichters Ai Qing: „Die Stimmen des Volkes zu unterdrücken, ist
die grausamste Form der Gewalt.“
Könnte es nicht sein, dass uns manch ein Werk erklärt, wo der Wahn
imperialer russischer Größe herkommt? Wieso Stalin verehrt wird? Inwiefern
die fehlende juristische Aufarbeitung vergangener Staatsverbrechen, die vom
Westen mitgetragen wurde, mitverantwortlich ist für die größenwahnsinnige
Hybris eines ehemaligen KGB-Offiziers?
Der offene Brief endet mit dem Aufruf: „Glory to Ukraine!“ Nein! Ruhm und
Ehre gelten den Menschen, aber nicht einem Nationalstaat! Wenn wir dies
wieder als Ideal hochhalten, können wir das europäische Projekt vergessen,
inklusive der Versöhnung, die in Zukunft nötig sein wird, über alle Wunden
und Gräben hinweg.
24 Mar 2022
## LINKS
[1] /Protest-im-russischen-Staatsfernsehen/!5841999
[2] https://www.iea.org/news/emergency-measures-can-quickly-cut-global-oil-dema…
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/183064/umfrage/militaerausga…
[4] https://www.youtube.com/watch?v=in_Gk12mXyI
[5] https://www1.wdr.de/kultur/kulturnachrichten/ukraine-pen-boykott-100.html
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schlagloch
Aufrüstung
Wladimir Putin
Atomwaffen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Bundeswehr
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
33 widerlegte Thesen: Gewissheiten, die nicht mehr gelten
Die Welt ändert sich rasant. Was uns vor zwei Jahren noch als
selbstverständlich erschien, hat die Wirklichkeit inzwischen abgeräumt.
Eine Sammlung.
Ukraine in der Gegenoffensive: Russland verliert erste Gebiete
Bei Kiew und bei Cherson drängt die Ukraine die Gegner zurück. Doch
Russland mobilisiert wohl bereits neue Truppen.
Appell gegen deutsche Aufrüstungspläne: 600 gegen 100 Milliarden
Ein illustrer Kreis aus Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie den
Gewerkschaften protestiert gegen die geplante massive Steigerung der
Militärausgaben.
Eingreiftruppe der EU: Mehr Druck auf Russland
Bei ihrer Konferenz in Brüssel rüsten die EU-Außen- und
Verteidigungsminister*innen auch verbal auf. Doch einige Länder
bremsen wieder.
100 Tage Ampel: Aufbruch im Krieg
Die Ampel hat einige Glaubenssätze aufgegeben. Doch das zentrale Projekt
soll nun noch schneller realisiert werden.
Greenpeace-Chef zum Krieg in der Ukraine: „Wir lehnen Waffen als Lösung ab“
Martin Kaiser erklärt das Dilemma der Friedensbewegung: Greenpeace ist
gegen Krieg und Rüstung, aber auch für die Verteidigung der Ukraine.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.