# taz.de -- Waffenexperte über Russlands Aggression: „Das wäre der völlige… | |
> Russische Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft? Friedensforscher Ulrich | |
> Kühn befürchtet eine nukleare Eskalation – und warnt vor Rufen nach der | |
> Nato. | |
Bild: Interkontinentalrakete vom Typ RS-24 bei der Parade zum 75. Jahrestag des… | |
taz: Herr Kühn, haben Sie als Experte für Atomwaffen in diesen Tagen Angst? | |
Ulrich Kühn: Selbstverständlich. Dieser Konflikt hat eine nukleare | |
Dimension erreicht. Dabei hat mich überrascht, wie schnell Putin gewisse | |
Signale gesendet hat. Man muss sich Sorgen machen, weil die involvierten | |
Interessen in diesem Krieg höher sind als bei vergleichbaren Krisen während | |
des Kalten Krieges. | |
Das müssen Sie erläutern. | |
Ich befürchte, dass wir in eine nukleare Krise vergleichbar zur Kuba-Krise | |
hineinlaufen. Damals hatten die USA ein extrem hohes Interesse daran, dass | |
die Nuklearwaffen aus Kuba direkt vor ihrer Haustür verschwinden, | |
wohingegen Chruschtschow vor allem Druck auf die Amerikaner ausüben wollte. | |
Das Kennedy-Team hat einen geschickten Ausweg gefunden, indem es einerseits | |
hart geblieben ist und eine Seeblockade zog und andererseits den Sowjets | |
still und heimlich signalisierte: Wenn ihr abzieht, werden wir unsere | |
Nuklearwaffen aus der Türkei abziehen. So wurde die Krise entspannt. | |
Und heute? | |
In der aktuellen Krise geht es für den Westen um vergleichsweise weniger, | |
denn die Ukraine ist nicht in der Nato. Russland hat diesmal dagegen das | |
höhere Interesse. Putin will die komplette Entwaffnung der Ukraine | |
erreichen und anders als die USA in der Kuba-Krise sendet er keine Signale, | |
wie man aus dieser Krise wieder herauskommen könnte. Ich sehe somit eine | |
Krise vergleichbaren Ausmaßes auf uns zukommen, aber ich sehe nicht, wo ein | |
möglicher Ausweg aus der Eskalationsdynamik ist. | |
Weil kein Angebot denkbar ist, das für alle Seiten akzeptabel wäre? | |
Die Russen machen kein Angebot, von westlicher Seite kommt aber auch keins. | |
Sprechen wir mal über die Sanktionen: Erfahrungsgemäß laufen Sanktionen | |
oft ins Leere, wenn nicht das klare Ziel formuliert ist, wann sie wieder | |
zurückgenommen werden. Man sollte der Gegenseite quasi eine Belohnung für | |
eine Verhaltensänderung anbieten. | |
Von westlicher Seite wurde dahingehend bisher nichts an Russland | |
kommuniziert. Man hat keine Strategie formuliert, welche Ergebnisse dieses | |
Krieges noch akzeptabel wären und welche Ergebnisse man unbedingt | |
verhindern möchte. Wir haben es bei Putin natürlich mit einem extrem | |
schwierigen Kandidaten zu tun. Er möchte anscheinend gar keine | |
Deeskalation. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass man nicht für | |
sich eine Deeskalationsstrategie entwickeln sollte. | |
Falls es auch weiterhin nicht zur Deeskalation kommt: Wie sieht das | |
Szenario einer nuklearen Eskalation aus, das Sie befürchten? | |
Wenn Russland militärisch weniger erfolgreich ist als vorher gedacht, wird | |
der Druck auf Putin zunehmen, noch aggressiver gegen die Ukraine vorzugehen | |
und seine Rhetorik gegen Länder weiter zu verschärfen, die die Ukraine | |
militärisch unterstützen. Gleichzeitig wird auch im Westen der Druck | |
zunehmen, je mehr Bilder von Gräueltaten in Kiew wir sehen werden. | |
Bevölkerungen und Medien werden ihren Politikern sagen: „Macht doch | |
irgendetwas.“ Und vor diesem „Irgendetwas“ habe ich als Konfliktforscher | |
Angst. | |
Rufe nach einer Flugverbotszone sind zum Beispiel höchst gefährlich. Bisher | |
wurden sie zum Glück auch auf höchster Ebene abgelehnt, weil das hieße, | |
dass Nato-Truppen und russische Truppen in einen heißen konventionellen | |
Krieg eintreten würden. Sobald der da ist, sind wir nur noch ein oder zwei | |
Schritte vom Nuklearkrieg entfernt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Chance | |
eines Nuklearwaffeneinsatzes immer noch eher gering. Sie liegt aber nicht | |
bei null. | |
Bleiben wir bei der russischen Seite: Halten Sie einen nuklearen Angriff | |
auf die Ukraine für denkbar, falls Putin seine Ziele durch den | |
konventionellen Krieg nicht erreicht? | |
Unter Umständen. Seit Jahren wird eine mögliche russische nukleare Doktrin | |
diskutiert, die sich „Eskalieren, um zu deeskalieren“ nennt. Die Vermutung: | |
Wenn Russland in einem bis dahin konventionellen Krieg ins Hintertreffen | |
gerät und die Existenz des eigenen Staates bedroht ist, könnte es ein oder | |
zwei nukleare Sprengköpfe einsetzen, um der Gegenseite zu signalisieren: | |
Wir überqueren jetzt die nukleare Schwelle und wenn ihr militärisch | |
weitermacht, sind wir in einem Nuklearkrieg. Das ist in der Theorie erst | |
mal ein defensives Konzept, das auf Abschreckung setzt. | |
Man vermutet aber gleichzeitig seit ein paar Jahren, dass Russland dieses | |
Konzept auch in einem offensiven Sinne verwenden könnte. Der Krieg in der | |
Ukraine könnte das unter Umständen bestätigen. Irgendwann könnte es zu dem | |
Punkt kommen, an dem Putin nicht mehr weiterkommt oder sich eine dritte | |
Macht von außen einmischt. Ob Russland dann zur nuklearen Schwelle | |
eskalieren würde und einen oder zwei taktische nukleare Gefechtsköpfe | |
zündet, ist eine der Fragen, die ich mir momentan stelle. | |
Moment, was sind taktische Nuklearwaffen? | |
Das sind vergleichsweise kleinere Sprengköpfe und die sind auf Raketen oder | |
Flugzeugen mit geringerer Reichweite stationiert. Wir reden hier also nicht | |
von den großen Interkontinentalraketen, die bis in die USA fliegen. | |
Und wie groß wäre die Zerstörungskraft? | |
Das hängt ein bisschen davon ab, wo man sie zündet und in welcher Höhe. | |
Über einer Stadt hätte es eine ganz andere Auswirkung als über einem | |
unbewohnten Wald oder waghalsig über der Ostsee. Aber so oder so hätte auch | |
der Einsatz von taktischen Gefechtsköpfen unglaubliche Auswirkungen. Es | |
gäbe einen Feuerball, einen nuklearen Fallout und so weiter. Davon mal | |
abgesehen stünden wir wirklich an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg. Das | |
wäre alles der völlige Wahnsinn. Wir müssen wirklich dringend darüber | |
nachdenken, wie wir diesen Gesamtkonflikt deeskalieren können. | |
In der Nacht auf Freitag gab es Kämpfe um das Atomkraftwerk Saporischschja. | |
Halten Sie es für denkbar, [1][dass Russland Atomkraftwerke beschädigen | |
wird], um sie quasi als indirekte nukleare Waffe zu nutzen? | |
Ich hoffe nicht. Das wäre ein mindestens genauso großer Wahnsinn. Das AKW, | |
um das es sich hier handelt, ist das größte in Europa. Das hat ungefähr die | |
vierfache Größe von Tschernobyl. Wenn es dort zu einer Kernschmelze kommt, | |
dann wären die Auswirkungen schrecklich – auch für Russland. Ich glaube | |
nicht, dass Russland so etwas mit Absicht macht. Aber man muss auch sagen: | |
AKW und offene Kriegshandlungen vertragen sich nicht. Das ist doch klar. | |
Dem Konzept der nuklearen Abschreckung zufolge müsste Russland doch | |
eigentlich vor dem Einsatz von Atomwaffen zurückschrecken, weil es einen | |
nuklearen Gegenschlag der Nato zu befürchten hätte. Warum bezweifeln Sie, | |
dass die Abschreckung funktionieren würde? | |
Glauben Sie noch, dass Putin völlig rational agiert? Über Jahrzehnte haben | |
wir gehört, dass wir es mit unangenehmen, aber doch rationalen Akteuren zu | |
tun haben, die im Zweifel wissen, wo die Grenzen sind. Aber haben Sie am | |
Montag vergangener Woche Putins Rede an die Nation gesehen? Das machte auf | |
mich nicht den Eindruck eines rationalen Führers. Das machte den Eindruck | |
eines emotional sehr bewegten, sehr aggressiven Anführers, der diesen Krieg | |
in der Ukraine mit seinem persönlichen Schicksal verknüpft. Ist dieser Mann | |
wirklich noch daran interessiert, dass Russland als Staat und als Volk | |
weiterhin überlebt? Ich bin mir nicht mehr sicher. | |
Wo befinden sich die russischen Atomwaffen eigentlich? | |
Die taktischen Nuklearwaffen mit kleinerer Sprengkraft und Reichweite | |
werden in mehreren Lagerstätten über das ganze Land verteilt gelagert. Die | |
Standorte kennen wir sehr genau, einer befindet sich an der Grenze zur | |
Ukraine. Wenn man durch Spione oder Satellitenbilder sieht, dass sich dort | |
etwas tut, wäre das ein Zeichen dafür, dass Russland möglicherweise den | |
Einsatz vorbereitet. | |
Ähnliches gilt für die strategischen Nuklearwaffen mit einer Reichweite von | |
10.000 Kilometern, für die es drei verschiedene Trägersysteme gibt: | |
Interkontinentalraketen, U-Boote und Langstreckenbomber. Wenn man zum | |
Beispiel sieht, dass besonders viele russische Atom-U-Boote gleichzeitig | |
die Häfen verlassen, wäre das ein sehr extremes Signale dafür, dass | |
eventuell etwas bevorsteht. Man kann mit solchen Signalen aber auch | |
bluffen. | |
Wir haben in Europa aber hoffentlich gute Abwehrraketen, die die | |
Nuklearwaffen abfangen würden? | |
Die Idee können Sie komplett vergessen. Gegen russische Lang-, Mittel- oder | |
Kurzstreckenraketen, ballistische Raketen oder auch Marschflugkörper haben | |
wir fast keine Verteidigung hier in Europa. Die Amerikaner haben eine | |
begrenzte Verteidigung. Aber die würde im Ernstfall schon deshalb | |
kollabieren, weil Russland die USA mit einem unfassbar großen nuklearen | |
Schlag angreifen würde, mit hunderten Raketen und vielleicht sogar | |
tausenden Gefechtsköpfen. Dagegen kann kein System verteidigen. | |
Es würde also auch keinen Sinn ergeben, die gerade in Aussicht gestellten | |
[2][100 Milliarden Euro für die Bundeswehr] in ein Abwehrsystem zu stecken? | |
Nein, das ist Unfug. Viele der russischen Raketen haben nicht nur einen | |
Sprengkopf, sondern mehrere. Die ballistische Rakete steigt hoch auf ihren | |
Scheitelpunkt und dann treten die einzelnen nuklear beladenen Gefechtsköpfe | |
aus. Wenn man möchte, kann man auch noch sogenannte Köder reinpacken, das | |
wären zum Beispiel Ballons, die für das gegnerische Radar so aussehen | |
würden, wie Gefechtsköpfe. Jetzt stellen Sie sich vor, das macht man mit | |
mehreren 100 Raketen. Wer will denn dagegen verteidigen? Keine Chance. | |
Das klingt alles nicht gut. Um doch noch ein wenig Hoffnung zu schöpfen: | |
Wie könnte ein Szenario aussehen, in dem es mittel- oder langfristig wieder | |
zu Abrüstungsgesprächen kommt? | |
Ich würde es anders formulieren: Jetzt ist es dringend geboten, sich daran | |
zu erinnern, dass Nuklearwaffen eben nicht den Frieden sichern. Ihr Preis | |
ist, dass man theoretisch jederzeit komplett vernichtet werden könnte. | |
Deswegen müssen wir dringend in der Zukunft über Rüstungskontrolle | |
sprechen, aber auch über komplette globale nukleare Abrüstung. | |
5 Mar 2022 | |
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