# taz.de -- NGO-Mitarbeiter über die Ostukraine: „Viele sind sprachlos“ | |
> Igor Mitchnik arbeitet für eine NGO, die in der Ostukraine tätig ist. Ein | |
> Gespräch über das Leben in der Konfliktregion und wie man den Menschen | |
> vor Ort helfen kann. | |
Bild: Vergangenes Wochenende: Zivilisten nehmen an einer Militärübung in Char… | |
Herr Mitchnik, Ihre NGO Libereco arbeitet eng mit zivilgesellschaftlichen | |
Organisationen in der Ukraine zusammen. Wie geht es den Menschen in der | |
Ostukraine gerade? | |
Igor Mitchnik: Viele Menschen sind sprachlos. Seit Jahren gibt es Berichte | |
über die Präsenz russischer Soldaten. Mit der Anerkennung der besetzten | |
Gebiete als unabhängig, entsendet Russland nun auch offiziell Truppen – und | |
viele sind besorgt, dass diese die Kontaktlinie (etwa 500 Kilometer lange | |
Front zwischen dem ukrainischen Militär und den prorussischen Separatisten, | |
d. Red.) überschreiten werden. Wir arbeiten in der Ukraine und vor allem in | |
der Ostukraine seit Jahren eng mit der Menschenrechtsorganisation Vostok | |
SOS zusammen. Diese besteht im Kern aus Binnengeflüchteten, die ihre Heimat | |
in Luhansk seit der Besetzung 2014 verlassen mussten. Dieses Schicksal | |
teilen viele Menschen, die heute in den von der ukrainischen Regierung | |
kontrollierten Teilen der Konfliktregion leben. Die haben vor sieben oder | |
acht Jahren schon einmal alles verloren. Ich habe mit Menschen gesprochen, | |
die jetzt völlig verzweifelt fragen: „Warum muss ich mein Haus und Heim | |
schon wieder verlassen?“ | |
Was bedeutet die aktuelle Situation für die Menschen vor Ort? | |
Unsere Partner vor Ort wie auch die OSZE berichten, dass in den vergangenen | |
Wochen die Verletzungen des Waffenstillstands massiv zugenommen haben. Das | |
hat gravierende Folgen für die Menschen. Manche verlieren ihre Häuser. In | |
der Stadt Schtschastja im regierungskontrollierten Teil der Region Luhansk | |
hat das Kohlekraftwerk wegen Beschuss seine Arbeit einstellen müssen. Die | |
umliegenden Dörfer, mehr als 7.000 Haushalte, sind ohne Strom. Der Zugang | |
zu medizinischen Dienstleistungen ist erschwert. Schüler:innen haben | |
keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen, weil der Strom ausfällt, einige | |
Schulen kamen unter Beschuss. | |
Wie helfen Sie und Ihre Partner:innen denn konkret? | |
Vostok SOS leistet akute humanitäre Hilfe. Als lokale Organisation sind sie | |
nicht so finanzstark wie große internationale Organisationen, können aber | |
viel schneller und gezielter reagieren. Sie sind permanent vor Ort, extrem | |
gut vernetzt und gehen auch in abgelegene Dörfer, in denen internationale | |
Hilfe so gut wie nie ankommt. Was sie jetzt vor allem brauchen, ist | |
finanzielle Unterstützung. Da geht es um Lebensmittel, warme Kleidung, | |
Decken und Medikamente, aber auch um mobile Generatoren, Fahrzeuge und | |
Benzin, falls Menschen evakuiert werden müssen – und um Hygieneprodukte | |
wie Masken und Desinfektionsmittel, die Coronapandemie ist ja nicht vorbei. | |
Wir haben einen [1][Nothilfefonds eingerichtet] und sammeln Spenden in | |
Deutschland und der Schweiz, um zu unterstützen. | |
Sind Ihre Partner:innen vor Ort sicher? | |
Sie arbeiten seit Jahren in einer Kriegsregion und haben entsprechende | |
Krisenstrukturen. Tatsächlich diskutieren sie aber derzeit, ob zumindest | |
die Familien mit kleinen Kindern nicht besser nach Kiew evakuiert werden. | |
Viele internationale Organisationen rufen ihre Mitarbeiter:innen | |
gerade dazu auf, das Land oder wenigstens die Region zu verlassen. Was sehr | |
beunruhigend ist, sind Meldungen westlicher Geheimdienste, dass Russland | |
und Belarus Listen mit „unerwünschten“ Personen erstellt haben, die im | |
Invasionsfall eliminiert werden sollen. Es ist zu vermuten, dass darauf | |
viele Menschenrechtsaktivist:innen und lokale Mitarbeiter:innen | |
humanitärer Initiativen stehen werden, egal ob ihre Projekte nun politisch | |
waren oder nicht. Das bereitet uns große Sorgen. | |
Was hätten Deutschland und die EU tun können, um diese Eskalation zu | |
verhindern? | |
Sie hätten vor allem weniger naiv sein müssen. Insbesondere Frankreich und | |
Deutschland sind mit ihrem Versuch, als Friedensvermittler aufzutreten, | |
komplett gescheitert – und das mit Ansage. Es gab sehr viel Blauäugigkeit | |
gegenüber Putins Größenwahn und der Natur des russischen Regimes, dem es | |
vor allem um konkrete Machtinteressen geht. Fatal war zum Beispiel die | |
Ansage aus vielen Ecken der deutschen Politik mit Blick auf Nord Stream 2, | |
Privatwirtschaft und Politik nicht vermischen zu wollen. Das verschließt | |
komplett die Augen davor, wie sogenannte privatwirtschaftliche Projekte in | |
der russischen Außenpolitik instrumentalisiert werden. Deshalb ist es gut, | |
dass die Bundesregierung das Projekt jetzt gestoppt hat. | |
Was muss Ihrer Meinung nach jetzt passieren? | |
Um eine weitere Eskalation zu verhindern, muss es aus meiner Sicht | |
unverzügliche [2][Waffenlieferungen] zur Selbstverteidigung an die Ukraine | |
geben. Je nachdem, wie Russland weiter agiert, muss die EU diejenigen | |
Gruppen unterstützen, die sich einer russischen Okkupation zivil | |
widersetzen werden. Vor allem muss alles getan werden, um die | |
Zivilgesellschaft weiter am Laufen zu halten. Es geht in der Ukraine | |
derzeit nicht nur um das Land, sondern um ganz Europa. | |
24 Feb 2022 | |
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[2] /Ein-ProContra/!5829150 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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