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# taz.de -- Behinderung und Migration: Eine Frage der Existenz
> Martha lebt seit zehn Jahren in Deutschland und braucht
> 24-Stunden-Assistenz. Als die Abschiebung droht, gerät alles ins Wanken.
Bild: Martha behält ein positives Menschenbild, das Problem seien die Struktur…
Wenn Martha* in das Land von Kindheit und Jugend zurückkehren müsste, „dann
müsste ich in ein Heim“. Mit 28 Jahren, mit Abitur, mit einer
abgeschlossenen und einer gerade laufenden Ausbildung, mit zwei Sprachen,
die Martha fließend spricht. Martha hat eine fortschreitende
Muskelerkrankung und sagt: „Ohne Assistenz rund um die Uhr ist mein Leben
nicht lebenswert.“ Für Martha ist das keine abstrakte Vorstellung.
„Androhung der Abschiebung nach Polen“ stand in einem Schreiben, das vor
drei Wochen in Marthas Wiesbadener Briefkasten steckte. Marthas Geschichte
ist eine, die drängende Fragen nach der Chancengleichheit in den
EU-Mitgliedsstaaten stellt, [1][nach der Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention]. Und nach der abwertenden Sprache deutscher
Bürokratie.
Im Jahr 1994 wird Martha im östlichen Polen geboren, in einer kleinen Stadt
mit 5.500 Einwohner:innen, keine Autostunde von der ukrainischen Grenze
entfernt. Mit neun Jahren braucht Martha den ersten Rollstuhl, mit 18
Unterstützung in allen Lebensbereichen. Solange das Kind klein und leicht
ist, übernimmt die Mutter den Hauptteil. Als die Pflege für sie zu schwer
wird, gibt der Vater den Job auf. Es ist klar: Wenn die Familie in Polen
bleibt, dann werden die Eltern nie mehr beide voll arbeiten können, dann
wird die Pflege von Martha ihre Hauptbeschäftigung.
Im sozialen Sicherungssystem Polens bedeutet das mehr als eine Frage der
beruflichen Selbstverwirklichung. Es ist eine Frage der Existenz. So reift
der Entschluss, nach Deutschland zu ziehen. Weil sich das westliche
Nachbarland in für die sie entscheidenden Dingen von Polen unterscheidet:
In Deutschland bekommt Martha überhaupt erst eine Diagnose für die
Erkrankung, die den Körper mehr und mehr einschränkt. Vor allem aber
finanziert das deutsche Solidarsystem persönliche Assistenz – von der
stundenweisen Begleitung in Schule, Beruf und Freizeit bis hin zur
24-Stunden-Assistenz.
Seit rund 20 Jahren können Menschen mit Behinderung diese Assistenz auch im
Arbeitgebermodell organisieren. Das heißt: Die Person mit Assistenzbedarf
bekommt ein Budget und bestimmt selbst, wen sie als Assistent:innen
einstellt, übernimmt die gesamte Koordination und Abrechnung. Menschen der
Selbstbestimmt-leben-Bewegung, die nicht länger von der Aufopferung ihrer
Verwandten abhängig sein wollten, haben sich dieses Recht ab den 1970er
Jahren erkämpft.
## EU-weites Recht auf Assistenz
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat die Rechte auf eine selbstbestimmte
Lebensführung für Menschen mit Behinderung zementiert. Die Europäische
Union ist beigetreten, 2011 ist die Konvention hier in Kraft getreten. Alle
EU-Mitgliedsstaaten haben außerdem auch einzeln unterschrieben. In Artikel
19 erkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderung auf
unabhängige Lebensführung an.
Das schließt ausdrücklich auch die persönliche Assistenz ein. Und doch gibt
es längst nicht in allen Vertragsstaaten 24-Stunden-Assistenz. Auch in
Deutschland ist die Genehmigung zu häufig ein langwieriger Kampf mit
Behörden und Krankenkassen. Marthas Familie zog 2012 nach Deutschland. Zehn
Jahre später, Anfang Februar 2022, wirft die Stadt Wiesbaden ihnen einen
Knüppel hin, der härter nicht hätte sein können.
## Man drohte die Abschiebung an
Martha hatte erst vor wenigen Monaten die deutsche Staatsbürgerschaft
beantragt. Noch im laufenden Verfahren kam das Schreiben der
Ausländerbehörde. Eine sogenannte Anhörung. Man beabsichtige, Martha des
Landes zu verweisen, droht die Abschiebung an, weil Martha die
Freizügigkeit missbrauche und von Sozialleistungen lebe, ohne dass eine
Erwerbstätigkeit in Sicht wäre, weil es nicht im öffentlichen Interesse
sei, dass Martha länger in Deutschland lebe.
„Das war das Abwertendste, was man mir je gesagt hat“, sagt Martha in den
schlimmen Tagen danach. In Polen gebe es doch auch Heime, habe der
Sachbearbeiter dann noch am Telefon gesagt. Die Aussicht, ohne
24-Stunden-Assistenz leben zu müssen, „das ist für mich ein Todesurteil“,
sagt Martha. Wem das zu dramatisch klingt, der vergegenwärtige sich noch
einmal die Alternativen.
## Ambivalente Gefühle
Die ambivalenten Gefühle, die Menschen mit Behinderung hier erleben, sind
Martha und den Eltern vertraut. So ist die Ausbildung zur Bürokauffrau bei
einem Berufsbildungswerk, die Martha 2018 abschließt, alles andere als der
Traumberuf – aber es ist das, was die Arbeitsämter bei Menschen mit
schweren körperlichen Einschränkungen [2][quasi automatisch aus der
Schublade ziehen].
Dass die Betroffenen dann [3][bedrückend oft keinen Job finden], scheint
bei den Behörden nicht zur Einsicht zu führen. Martha wollte einen
Informatikberuf erlernen, weil das mit den fortschreitenden Einschränkungen
besser vereinbar wäre. Abgelehnt. Martha wollte studieren, soziale Arbeit,
hatte schon den Studienplatz. Nur wenn Matha in dieser Zeit zusätzlich
arbeite und sich selbst finanziere, sagte das Amt. Ein schlechter Scherz.
## „Viele Knüppel zwischen die Beine“
Nun finanziert sich Martha aus der Grundsicherung eine Ausbildung zur
systemischen Berater:in. Manchmal bleibt kaum genug Geld für Essen. Trotz
der anerkannten Erwerbsminderung sei da der unbedingte Wille zu arbeiten,
sagt Martha. „Im Einklang mit meiner gesundheitlichen Situation.“
In diesem Land, „das mir [4][immer wieder auch so viele Knüppel zwischen
die Beine geworfen hat]“, lebt Martha aber eben auch seit 2016 mit
24-Stunden-Assistenz, seit 2020 im Arbeitgebermodell. „Das gibt mir
überhaupt erst einmal die Möglichkeit zu arbeiten, sonst ginge gar nichts“.
## Ehrenamtlich und queerfeministisch
Martha berichtet auf Social Media über das Leben als mehrfach
diskriminierte, nichtbinäre Person, engagiert sich ehrenamtlich und
queerfeministisch. Marthas Eltern leben in derselben Stadt und arbeiten in
Vollzeit – weil sie es können. Der Vater wieder in der geliebten
Automobilbranche, die Mutter hat sich ihren Traum als medizinische
Assistentin erfüllt – „nicht nur ich konnte mich autonom weiterentwickeln�…
sagt Martha.
Als das Schreiben der Ausländerbehörde kommt, wird Martha sofort aktiv. Gut
vernetzt, mit vielen Kompetenzen – per Crowdfunding sammelt Martha in
kürzester Zeit Geld für die anwaltliche Beratung. Und Martha schreibt eine
Beschwerde an das Bürgerreferat der Stadt Wiesbaden. Es vergehen nur wenige
Tage, dann antwortet die Leiterin der Ausländerbehörde persönlich. Sie
schreibt von einem Missverständnis, denn Martha habe schon längst ein
Daueraufenthaltsrecht erworben. Ihr Mitarbeiter habe die rechtliche Lage
falsch bewertet, die Anhörung sei gegenstandslos. Sie entschuldigt sich für
die „entstandenen Unannehmlichkeiten aufgrund des Behördenversehens“ und
bedauere sehr, „dass das Prüfungsverfahren Sie solchen Aufregungen
ausgesetzt hat“.
## „Menschenbild bleibt positiv“
Der Sachbearbeiter selbst hat sich inzwischen in einem Schreiben mit
ähnlichen Worten entschuldigt. Er habe nichts von der Schwere der
Behinderung gewusst, schreibt er. Die persönlich und vernichtend klingenden
Sätze in dem vierseitigen Anhörungsschreiben stellen sich als allgemein
verwendete Textbausteine heraus, die in dieser und ähnlicher Weise an viele
Menschen verschickt werden.
Für Martha ist dies ein weiteres Erlebnis mit der ambivalenten
Fortschrittlichkeit Deutschlands. Mit Happy End. 2023 will Martha die
Ausbildung zur Berater:in beenden und dann Menschen aus der
LGBTQI-Community und mit Mehrfachdiskriminierung begleiten. Mit der
deutschen Staatsbürgerschaft will sich Martha außerdem den Personenstand
als nichtbinäre Person eintragen lassen. „Mein Menschenbild bleibt
positiv“, sagt Martha. „Ich gebe eher den Strukturen die Schuld, die dazu
führen, dass man Menschen nach Arbeitsleistung sortiert.“
*der Vorname wurde geändert. Martha bevorzugt zudem den Verzicht auf
geschlechterspezifische Pronomen
6 Mar 2022
## LINKS
[1] /Kommentar-Behindertenrechtskonvention/!5579425
[2] /Rechte-fuer-Menschen-mit-Behinderung/!5785823
[3] /Behindertenbeauftragter-schlaegt-Alarm/!5834305
[4] /Mangelnde-Barrierefreiheit/!5832194
## AUTOREN
Manuela Heim
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