| # taz.de -- 24-Stunden-Assistenz: Immer in Begleitung | |
| > Victoria Michel lebt selbstbestimmt mit der Hilfe von Assistentinnen, die | |
| > sie unterstützen. Das Verhältnis zu ihnen ist „eine Art | |
| > Zweckfreundschaft“. | |
| Bild: Victoria Michel ist im Februar mit ihrer Assistentin Alina Gerversmann in… | |
| Bochum taz | Ende Januar, als sich in Deutschland mehr als jeder Hundertste | |
| mit dem [1][Coronavirus] infiziert, muss Victoria Michel in Quarantäne. Sie | |
| hatte engen Kontakt zu infizierten Personen. Quarantäne heißt für die | |
| meisten Menschen: nicht rausgehen, die Nachbarn stellen Tüten mit Essen vor | |
| die Tür, eine Freundin legt vielleicht ein Buch gegen die Langeweile dazu. | |
| Vor allem bedeutet Quarantäne: rund 10 Tage keinen Kontakt, möglichst zu | |
| niemandem. | |
| „Ha, ha“, sagt Michel trocken, als wir in dieser Zeit videochatten. Sie | |
| kann nicht einmal eine Stunde ohne direkten Kontakt bleiben. Victoria | |
| Michel, 27 Jahre alt, lebt mit 24-Stunden-Assistenz. Weil ihr Körper gerade | |
| so viel Bewegung erlaubt, um zu sprechen, essen, ein Handy und den | |
| Elektro-Rollstuhl zu bedienen, braucht sie in allen Lebensbereichen und | |
| rund um die Uhr Unterstützung. Normalerweise von einer ihrer acht | |
| Assistentinnen. Quarantäne bedeutete für Victoria Michel: für zwei Wochen | |
| zurück zu ihren Eltern ziehen, um ihre Assistentinnen vor einer möglichen | |
| Ansteckung zu schützen. Ihr Fazit: „War nötig, ist aber nicht | |
| empfehlenswert.“ | |
| Victoria Michels Geschichte ist eine Geschichte der Selbstbestimmtheit. Sie | |
| räumt auf mit dem Vorurteil, die Pflege aus Liebe wäre das Beste, was einem | |
| passieren kann. Es gibt nur ein paar tausend Menschen in Deutschland, die | |
| mit selbst organisierter 24-Stunden-Assistenz leben, bundesweite | |
| Statistiken dazu gibt es nicht. Einige mussten sich das Recht auf dieses | |
| selbstbestimmte Leben vor Gericht erstreiten. Der Weg zur | |
| 24-Stunden-Assistenz verlangt auch Menschen wie Victoria Michel einiges ab. | |
| Es ist Mitte Februar, als ich Michel in ihrer Bochumer Wohnung persönlich | |
| treffe, seit ein paar Tagen ist sie wieder zu Hause. „Was für ein Rock!“, | |
| rutscht es mir fast als Erstes raus. Michel trägt zur schwarzen | |
| Strickjacke, den rot gefärbten Haaren und dem knallroten Lippenstift einen | |
| weiten Plisseerock in bunten Farben, die in der Sonne schillern. Er bedeckt | |
| ihre Beine und den halben Rollstuhl. Draußen zerrt der Wind an ihm. Der | |
| Rock ist wunderschön, aber vielleicht ein bisschen dünn für diese | |
| stürmischen Wintertage. Vielleicht hätten Michels Eltern ihn ihr nicht | |
| angezogen. | |
| Kind sein | |
| Zum Glück haben die Eltern erst das Kind bekommen und dann das Haus gebaut. | |
| 1994 wird Victoria Michel im Oberbergischen geboren. Nahe Gummersbach, in | |
| einem 200-Seelen-Dorf. Das Kind hat kaum Muskelspannung und würde nie mehr | |
| bekommen. Es wird nicht laufen und keine Treppen steigen. Ein Architekt, | |
| der selbst im Rollstuhl sitzt, plant das Haus barrierefrei. | |
| „Das war natürlich ein Privileg“, sagt Michel. Und meint das Haus und dass | |
| die Eltern das Geld dafür haben und deren Kampfgeist, der noch oft vonnöten | |
| sein wird. Die ersten zweieinhalb Jahre tragen die Eltern das Kind herum. | |
| „So viel zur Selbstbestimmung“, sagt Michel. Mit zweieinhalb Jahren bekommt | |
| Michel den ersten Elektro-Rollstuhl. Mit einer winzigen Sitzschale und | |
| einem Hebel, der auch den Bewegungen von Michels Fingern gehorcht. „Andere | |
| lernten laufen, ich E-Rolli fahren“, erzählt sie. Der Beginn der Autonomie. | |
| „Mit vier Jahren habe ich dann beschlossen, dass ich nicht behindert bin.“ | |
| Michel besucht eine integrative Kindertagesstätte, in der integrativ | |
| bedeutet: Es gibt eine Gruppe für nichtbehinderte Kinder. Und eine für | |
| behinderte, in der Michel die Einzige ohne geistige Behinderung ist. „Das | |
| bedeutete zwei Jahre im Kreis fahren“, sagt sie. Das Klischee von | |
| Behinderung wird auch zu ihrem: „Das sind die, die irgendwann in einer | |
| Einrichtung verschwinden, wo sie stupide Teile zusammenstecken und den Rest | |
| des Tages an die Wand starren.“ Wenn das Behindertsein ist, „dann bin ich | |
| eben nicht behindert“, sagt sie. | |
| Aber wie macht man das, wenn man gerade die Finger weit genug bewegen kann, | |
| um einen Strohhalm zu halten? „Stephen Hawking“, sagt Michel und meint: so | |
| schlau werden, wie es nur geht. Weil oftmals nur das in den Augen der | |
| andern zählt, wenn man im Rollstuhl sitzt. | |
| Dass das der Weg sein musste, ist auch die Überzeugung der Eltern. Zweimal | |
| erstreiten sie einen Platz für ihre Tochter im Regelschulsystem. In der | |
| Grundschule im Nachbardorf geht es noch gut, „da kannten mich alle schon“. | |
| Im Gymnasium in Gummersbach erdrückt der Leistungsanspruch das kämpfende | |
| Kind. Die Jugendliche bekommt psychische Probleme. | |
| „Ab 14 war es einfach nur Scheiße“, sagt Michel. Aber immerhin habe sie | |
| gelernt, sich effizient für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Auch beim | |
| Arbeitsamt. Als das zur Berufsberatung ins Gymnasium kommt, soll Victoria | |
| Michel – die das Abitur übrigens mit 1,9 abschließt – gar nicht beraten | |
| werden. „Sie sind ja eh behindert.“ Schließlich sprechen ihre | |
| Lehrer:innen einzeln vor, um die Berufsberatung zu überzeugen, dass | |
| Michel für ein Studium taugt. | |
| Bis zu diesem Zeitpunkt wird Victoria Michels Körper jeden Tag von den | |
| Eltern bewegt, gewaschen, mit Nahrung versorgt, gecremt, bekleidet. Sie | |
| machen es gut, sie wollen das Beste für die einzige Tochter. Aber es ist | |
| ihr Leben und ihr Alltag, in den sie die Wünsche und Träume von Victoria | |
| Michel integrieren. Der Alltag ist ein Kompromiss, aber großartige | |
| Freiheiten kann er nicht bieten. | |
| Als die erwachsene Victoria Michel vor Kurzem für die Quarantäne wieder zu | |
| Hause einzog, waren all die altbekannten Muster wieder da. „Ich bin | |
| inzwischen 27 Jahre alt und dann manchmal gefühlt wieder 5“, sagt Victoria | |
| Michel. Aus Liebe nehmen die Eltern jede Ansteckungsgefahr in Kauf. Aber am | |
| Ende sind beide Seiten, Michel und ihre Eltern, froh, als die Zeit der | |
| elterlichen Pflege wieder vorbei ist. | |
| Damals, nach dem Abi, war der Schritt weg von den Eltern ein riesengroßer. | |
| Mit 19 zieht Michel aus dem barrierefreien Haus bei Gummersbach in ein | |
| Bochumer Studentenwohnheim. Hier beginnt ihr Leben mit Assistenz. „Und | |
| meine richtige Pubertät“, sagt sie. „Diese ganzen Fragen, wer bin ich | |
| eigentlich und wo will ich hin, soweit sich das überhaupt beantworten | |
| lässt. Ihr wisst schon, was ich meine, das war dann überhaupt erst | |
| möglich.“ | |
| Erwachsen werden | |
| Victoria Michel braucht jemanden, der rund um die Uhr da ist. Weil sie sich | |
| verschlucken und dann sterben kann. Weil sie auf bestimmte Weise gelagert | |
| und geduscht werden muss. Weil jemand da sein muss, der ihr das Essen | |
| reicht, den Fernseher anmacht, sie in die Uni fährt oder ins Café, ihr den | |
| Schal umlegt und jede einzelne Tür öffnet, durch die sie fahren will. „Ich | |
| wusste selbst nicht, wie das funktionieren soll, schließlich haben sich | |
| meine Eltern das ganze Wissen 19 Jahre lang angeeignet.“ Die beiden | |
| Menschen, denen sie blind vertrauen konnte, die sie aus Liebe pflegten, | |
| waren nun anderthalb Autostunden entfernt. Dafür sollen Fremde übernehmen, | |
| die sich in 24-Stunden-Schichten abwechseln. | |
| Doch bereits die Assistentin, die den ersten Dienst bei Victoria Michel | |
| antritt, ist ein Glücksgriff. Sie ist wie fast alle Assistent:innen | |
| keine ausgebildete Pflegekraft, aber sie fragt einfach die, die es am | |
| besten weiß, die Expertin für ihre Bedürfnisse: Victoria Michel selbst. | |
| „Das musste ich ja erst einmal begreifen, dass ich jetzt alles entscheiden | |
| kann.“ | |
| Für Michel beginnt die Zeit, in der sie lernt, höflich, aber bestimmt zu | |
| sagen, was sie will. „Am Anfang habe ich fünfmal überlegt, ob ich das jetzt | |
| wirklich verlangen kann.“ Es dauert, bis sie ihr Team so zusammenhat, dass | |
| es für sie passt. | |
| Denn es gibt Bewerberinnen, „die bringen alle Klischees mit, die über | |
| behinderte Menschen und Assistenz existieren“, sagt Michel. Endlich einem | |
| armen behinderten Menschen helfen, einen Sinn in seinem Leben zu finden. | |
| Und dabei als Assistentin vor allem eine chillige Zeit haben. Immer wieder | |
| diese Idee von den „ziemlich besten Freunden“ – gespeist aus einem sehr | |
| erfolgreichen französischen Film, in dem ein junger Typ einem weitgehend | |
| bewegungsunfähigen Mann zeigt, wie man mal richtig Spaß hat. „Da könnte ich | |
| schreien“, sagt Victoria Michel. Sie lasse sich zwar gern mal mitreißen von | |
| der Idee einer Assistentin. „Mich muss aber niemand die ganze Zeit | |
| bespaßen, das kann ich schon alleine.“ | |
| Was ist es dann, diese Assistenz? Wie viel Fremdheit, wie viel Intimität? | |
| „Es bleibt eine Art Zweckfreundschaft“, sagt Victoria Michel. Ihre | |
| Assistentinnen wissen alles über sie, weil sie immer da sind. Und sie weiß | |
| viel über ihre Assistentinnen, weil ihr das wichtig ist. Wenn Michel plant, | |
| ins Kino zu gehen oder ins Konzert, zu Hause zu backen oder zu kochen, dann | |
| überlegt sie, mit welcher Assistentin das am meisten Spaß macht. | |
| „Mit manchen könnte ich 24 Stunden durchquatschen“, sagt Michel. Mit denen, | |
| die lange da sind, ist es manchmal wie bei einem alten Ehepaar. „Dann ist | |
| es vielleicht auch Zeit, sich wieder zu trennen.“ Und wenn das | |
| Dienstverhältnis beendet ist, ist es beendet. „Da mache ich mir keine | |
| Illusionen.“ | |
| Die Assistentin | |
| Acht Jahre nach ihrem Auszug sitzen wir an Michels Küchentisch. Zu dritt. | |
| Heute hat Alina Gerversmann Dienst. „Bringst du mir bitte etwas zu trinken | |
| und legst meine Hand etwas näher?“, sagt Victoria Michel. „Ist es so gut?�… | |
| fragt Gerversmann. Sie fragt viel. | |
| Ob sie Victoria den Schal umlegen soll, bevor wir raus in Richtung Markt | |
| gehen. Ob sie ihr die Maske aufsetzen soll, als wir die volle Fußgängerzone | |
| erreichen. Ob sie das Portemonnaie rausnehmen darf, als Victoria am | |
| Gemüsestand Paprika und Kiwi kauft. Ob sie den Rock etwas unter die Seiten | |
| klemmen soll, weil er so im Wind flattert. Ob Victoria Angst um den | |
| knallroten Lippenstift hat, wenn sie an der Maske rückt. „Der wird’s | |
| überleben“, sagt Victoria Michel. | |
| Alina Gerversmann ist 29 Jahre alt und seit vier Monaten eine von Michels | |
| Assistentinnen. Zuvor hat sie jahrelang immer wieder als Pflegehelferin in | |
| einem Behindertenheim gearbeitet. „Da waren wir ja eigentlich auch dafür | |
| da, den Willen der Bewohner umzusetzen“. Aber tatsächlich, und das sagt | |
| Gerversmann mit viel Resignation, habe sie nur dem System gedient. Einem | |
| System, in dem der Kostendruck dazu führe, „dass ich schon die intimsten | |
| Stellen einer Person gewaschen habe, bevor ich überhaupt ein Gespräch mit | |
| ihr führen konnte.“ | |
| Doch „jetzt bin ich hier, um Victoria ihr Leben zu ermöglichen“, sagt | |
| Gerversmann. Deshalb frage sie so viel. Gerversmann arbeitet in einer | |
| Vollzeitstelle in fünf bis sechs 24-Stunden-Diensten im Monat. Mit zwei | |
| kleinen Kindern zu Hause lässt sich auch das besser vereinbaren als die | |
| wechselnden Schichten in der Einrichtung. | |
| Die Welt da draußen | |
| „Meine Assistentinnen gehen mir seltenst auf den Sack“, sagt Victoria | |
| Michel, „die Welt da draußen schon.“ Einmal wollte sie einen guten | |
| Lippenstift in einer Parfümerie kaufen – so einen, der auch die Masken | |
| überlebt. „Diesen hätte ich gern“, sagte sie zu der Verkäuferin. „Sie … | |
| aber schon, dass der 25 Euro kostet?“, sagt die Verkäuferin zu der | |
| Assistentin. Es gibt viele solcher Begebenheiten. | |
| Immer wieder die Situation, dass Menschen denken, die Assistentin wäre eine | |
| Verwandte. Dieser Blick, wenn Michel selbst auf eine Frage an die | |
| Assistentin antwortet: „Oh mein Gott, es kann sprechen“, erzählt sie. | |
| Ein abgeklärter Humor liegt in den Worten der 27-Jährigen, die ihre | |
| Assistenz inzwischen im Arbeitgebermodell organisiert. Sie hat gelernt, ein | |
| Kleinunternehmen mit acht Angestellten zu führen. Nach ihrem Studium will | |
| sie als Lobbyistin für Menschen mit Behinderung arbeiten und ist | |
| entschlossen: „Ich will helfen, das [2][System] zu verändern“. | |
| 8 Mar 2022 | |
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| Manuela Heim | |
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