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# taz.de -- Roman „Mai, Juni, Juli“: Merkwürdiges Wuchern
> Wiedergelesen: Joachim Lottmanns Debütroman „Mai, Juni, Juli“ führt
> zurück in die Achtzigerjahre.
Bild: Buntes für den Hals: Lederkrawatten, wichtiges modisches Accessoire in d…
„Es war in der Zeit, als ich unbedingt ein Schriftsteller sein wollte. Eine
schreckliche Zeit.“ So beginnt [1][Joachim Lottmann] seinen Debütroman und
klingt dabei, als wäre dieses Schriftstellerseinwollen eine Art Verirrung
gewesen, der zum Glück nicht beschrittene Lebens-Pfad. Wer je von diesem
Lottmann gehört hat, weiß, dass der sehr wohl einer geworden ist: „Ich bin
ein Schriftsteller! Ich bin ein Schriftsteller!“, ruft er uns ja schon auf
der nächsten Seite entgegen, da in „Mai, Juni, Juli“.
Solches Hakenschlagen, Sichwidersprechen auch auf sehr wenig Raum, daran
muss sich gewöhnen, wer das Buch liest. Ebenso die konsequente Koketterie
mit dem Außenseiter-Sein: unter den Außenseiter:innen in einer
80er-Jahre-Popzeitschriftenredaktion, der ganzen westdeutschen
Großstadtbohème, dem Autor:innen-Stall seines renommierten Verlags oder
auch der Handvoll deutschsprachiger Vertreter:innen des als
„Pop-Literatur“ bekannt gewordenen Subgenres. Vor allem aber treibt er ein
mal mehr, mal weniger absichtsvoll wirkendes Spiel mit der Literarisierung
und deren völliger Abwesenheit, vielleicht sogar: Ablehnung.
Der eingangs so mit dem Schreiben hadernd sich zeichnende Schreiber: Er
schlägt sich durch im Hamburg der mittleren 80er-Jahre. Als einziger Mieter
„in einem kleinen Stadthaus inmitten der Innenstadt“ wohnt er unterm Dach,
in einem Raum, „der mit und ohne Sonne vor Staub flirrte und in dem sich
seit 1795 nichts verändert hatte“. Eine Variation aufs Thema „Kunst
verträgt keine Ablenkung“, mithin ganz und gar Kanon und kein bisschen
außenseiterig. Überhaupt geht „Mai, Juni, Juli“ als [2][eine Art
Knut-Hamsun-Coverversion] durch; nicht Lottmanns einzige, glaubt man
diversen Rezensionen auch späterer Bücher.
Die Pose des Eremiten aber „war für meine Schriftstellerexistenz das
wichtigste“, lesen wir: Andere Schreibende „mußten nämlich, in diesem
Jahrhundert, schrecklich viel Miete bezahlen, was sie dazu zwang, ehrlose
Arbeiten für Zeitungen auszuführen, wodurch sie ihr Urteil, ihren Blick für
das Universum, ihre Liebe zu den Menschen verloren“. Klar: Sogar dieser
Ich-Erzähler geht mal aus dem Haus, und sei es, um im nahe gelegenen
amerikanischen Schnellrestaurant Zuckertütchen zu klauen. Auf solchen Wegen
erwägt er Schreibprojekte, begegnet zuweilen Menschen. Beides dient
Lottmann zu – so ist anzunehmen – auch damals schon gezielten Verstößen:
gegen das, was später als vermeintlich übertriebene Politische Korrektheit
galt oder, noch später, als „Wokeness“. Überrascht es irgendwen, dass die
[3][Welt 2003 befand], der Roman sei „eine Provokation der Literary
Correctness aus dem Geiste des Pop“?
Ob er nicht über Billerbeek schreiben solle, zum Beispiel, fragt sich der
Ich-Erzähler bei so einem Gang auf Hamburger Straßen. Klingt wie ein
Flecken im norddeutschen Umland, ist aber sein „einziger wirklich häßlicher
Freund“. Dem Namen stellt Lottmann wiederholt ein N-Wort voran, das
harmlosere der beiden, das weniger eindeutig rassistisch codierte; gerahmt
meistens durch Anführungszeichen, und beim ersten Mal gleich wieder
lottmanntypisch kommentiert: „Nein, nein, schon der Name war unmöglich.“
Aber ganz weglassen ging eben auch nicht. Dieser „Billerbeek“ ist nicht von
dunklerer Pigmentierung, sondern hat schlimme Verbrennungen erlitten, so
viel zur Notwendigkeit.
Diese, seine Spielchen spielte Lottmann 1986, da schrieb er – angeblich
wirklich im Verlauf er drei titelstiftenden Monate – den im Jahr darauf
erschienenen Roman. Da waren heutige Debatten über Sprache und Privilegien
noch weit weg, ebenso das Internet, für das Lottmann mitunter wie gemacht
scheint. Er fand ja irgendwann zum [4][Bloggen – unter anderem für die
taz], die er 1986/87 freilich fürs Zentralorgan des Ökospießertums gehalten
haben dürfte. Oder doch nicht? Seinem Ich-Erzähler entfährt durchaus
Schwärmerisches über Rudi Dutschke.
Dieses ironisch sich windende, stets sich gleich wieder absichernde
Sprechen und Schreiben hatte natürlich seine Vorbilder: Punk war noch nicht
lange tot, aber schon wieder lang genug, dass auch ein phänotypischer
Spießer wie Lottmann sich als Abweichung gegen die Norm gewordene
Abweichung fühlen konnte; der auch später manchmal ausgestellte Ekel gegen
weichspülende Lehrer:innen und gleichmachende Sozialdemokratie: alles
bloß abgekupfert – aber Authentizität war ja, eben, was für Hippies.
„Das ist kein Buch, das ist das Leben“, hat es dann irgendwann – 2002, da
war das Buch nur antiquarisch zu kriegen – [5][die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung formuliert], aber der Satz könnte auch von Lottmann selbst
sein, so einleuchtend wie blöde ist er: einleuchtend, weil er jeden
kunstfertigen Umgang mit der Sprache, alles Literarische leugnet; blöde,
weil er auf Schritt und Tritt zu widerlegen ist und Lottmann einen ganzen
Schwung Bücher in eines gezwängt hat: Im Nachwort zur
Wiederveröffentlichung 2003 schreibt Verleger Helge Malchow, Lottmann habe
„in diesem Roman zahlreiche weitere Romane erzählt“; der erwähnte Hamsun,
dessen „Hunger“ im eingangs zitierten ersten Satz aufscheint, war da nur
eine Bezugsgröße; bis zu 32 sind „Mai, Juni, Juli“ attestiert worden.
Irgendwann lässt Lottmann sein Alter Ego Hamburg verlassen, gen Köln, wo ja
das Buch geschrieben wurde. Angeblich hatte er vor, der dortigen Kunstszene
richtig einen einzuschenken, mit dem nächsten Roman, der aber nie Realität
wurde. Mal heißt es: Er sei geradezu verjagt worden, dann wieder soll es
der Mauerfall gewesen sein, der der Republik ein Hauptstadt-Berlin
wiedergegeben habe – seither Lottmanns Bühne und Sujet.
Aber auch diese Geschichte kann schlicht eine Ranke mehr sein in diesem
merkwürdigen Wuchern aus Text und Paratext, Schelmen-Pop-Literatur,
Tresenfantasterei und schlicht aufs allerbeste aufgerissenem Maul.
25 Feb 2022
## LINKS
[1] /!s=%2522joachim+lottmann
[2] https://www.heise.de/tp/news/Lottmann-covert-Hamsun-2113810.html
[3] https://www.welt.de/print-welt/article248837/Dem-Leben-den-Hintern-zeigen.h…
[4] https://blogs.taz.de/lottmann/
[5] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rez…
## AUTOREN
Alexander Diehl
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