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# taz.de -- Autor über Debattenkultur: „Zunehmend rigorose Forderungen“
> Zu viel politische Korrektheit? Autor Matthias Politycki floh nach Wien –
> weil ihm in Hamburg das Schreiben unmöglich geworden sei.
Bild: Ganz andere Debattenkultur? Gäste und Personal im Kaffeehaus Hawelka, Wi…
taz: Herr Politycki, wenn Sie, und sei’s in der Nacht, an Deutschland
denken – was macht das mit Ihnen?
Matthias Politycki: Es hat mich tatsächlich lange schlaflos gemacht, und
nicht nur mich. Als ich anfing, mich mit anderen darüber zu verständigen,
war ich überrascht, wie vielen es ähnlich ging, gerade auch Leuten aus
meiner klassisch-linken Ecke. [1][Die Freiheit der Debattenführung], die
Unbeschwertheit des Sprachgebrauchs, das direkte Ansprechen auch
kontroverser Themen: Wie konnte all das, was wir so selbstverständlich über
Jahrzehnte genossen haben, so schnell verschwinden? Es hatte ja nicht etwa
irgendwer von oben eingeschränkt.
Wer war es denn dann?
Wir selbst waren es mit unseren zunehmend rigorosen Forderungen nach
politischer Korrektheit in allen Lebensbereichen. Irgendwann war ein Punkt
überschritten, der auch mir die Sprache verschlagen hat. Es hat eine ganze
Weile gedauert, bis ich merkte, dass ich nicht mehr unbeschwert und mit
Freude in den Tag ging – nicht als Mitglied unsrer Gesellschaft, nicht
einmal mehr als Schriftsteller am eigenen Schreibtisch, schließlich war mir
die Sprache selbst zum Problem geworden.
Lässt sich das an etwas Konkretem festmachen?
Wie gesagt, ich komme aus der Linken. Das heißt, ich bin umgeben von
Leuten, die mich – sei’s auch nur zum Scherz – bei gewissen Themen fragen:
Darfst du als Weißer dazu überhaupt noch Stellung nehmen, darfst du noch
darüber schreiben? Ich antworte jedes Mal: Selbstverständlich darf ich das,
vielleicht ist genau das sogar meine Aufgabe – schließlich bin ich viel in
Afrika und Asien unterwegs gewesen. Was heute der „kulturellen Aneignung“
verdächtig gemacht wird, hieß gestern noch Weltoffenheit und
Kosmopolitismus. Wie reaktionär unsere aktuellen weltanschaulichen
Positionen erscheinen, wenn man sie aus der Perspektive des Reisenden
betrachtet! Und wie moralinsauer unser aktueller Sprachgebrauch bis hin zur
permanenten Sexualisierung von Menschen und Menschinnen!
Es geht Ihnen also um die Sprache, aber auch um die Themen, über die in
einer – vielleicht regulierten – Sprache nicht gesprochen werden dürfe.
Welche konkreten Auswirkungen hatte das für Sie?
Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich schreiben kann, was und –
vor allem – in welcher Wortwahl ich will. Aber andere [2][können das nicht
mehr]. Ich erhalte viele Mails, vor allem von Journalisten, aber auch von
Schriftstellern, die mit ihren Texten bei ihren Redaktionen oder Verlagen
nicht mehr „durchkommen“. Sie werden gegen ihren Willen gegendert, gegen
ihren Willen werden Aussagen gestrichen, manchmal erfahren sie davon erst,
wenn der Text im Blatt steht oder auf der Website. Romanmanuskripte werden
von sogenannten „Sensitivity Readern“ redigiert; sie markieren jede Stelle,
die eine Minderheit verletzen oder einen „sensiblen“ Leser
„retraumatisieren“ könnte. Kann man derart glattgeschliffene Texte
überhaupt noch als Literatur bezeichnen?
Nun hat eine Macht immer schon mitbestimmt über Wohl und Wehe der
Schreibenden: der Markt. Auch die Notwendigkeit, sich etwa
Verleger*innenvorstellungen anzupassen, ist ja nicht mit neuen
Sprachregelungen oder Gender-Studies-Seminaren ins Spiel gekommen.
Ich selbst bin als experimenteller Autor gestartet, liebe den kreativen
Umgang mit Sprache, bin absolut für Veränderung. Und nicht nur in der
Sprache! Gedanklich komme ich von Nietzsche, dem jede Weisheit nur dazu
dient, widerlegt zu werden, der immer wieder versichert, dass seine
gestrigen Wahrheiten und Gewissheiten heute womöglich nicht mehr gelten. Es
ist allerdings ein Unterschied, ob sich Meinungen und Sprachgepflogenheiten
organisch entwickeln oder ob sie von einer selbsternannten Elite dekretiert
werden. Meine Eltern hatten den Nationalsozialismus erlebt, aus ihren
eigenen Versäumnissen heraus haben sie mich zu einer permanenten
Wachsamkeit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen erzogen, weit über
Deutschlands Grenzen hinaus. Und natürlich bin ich auch von den 68ern unter
meinen Lehrern entsprechend geprägt worden.
Sie sagen, da sei eine Minderheit am Werk. Wie kann die derart erfolgreich
sein, wie Sie es beschreiben?
Sie sitzt inzwischen an den Schaltstellen unsres geistigen Lebens – nachdem
sie den Marsch durch die Instanzen gemacht hat, ähnlich wie damals die
68er: von den Universitäten in die Medien und die verschiedenen
Kunstsparten, inzwischen auch schon in Schulen und Stadtverwaltungen. Dort
gibt sie auf eine sehr selbstbewusste Weise den Ton an und fühlt sich
berufen, ihre Kriterien auch in allen anderen gesellschaftlichen
Gruppierungen durchzusetzen – Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich
ja schon immer als Avantgarde verstanden. Die heutigen Avantgarden kämpfen
aber nicht mehr mit den besseren Argumenten.
Sondern?
Mit den stärkeren Emotionen, und vor allem locken sie nicht mit Sex and
Drugs and Rock’n’Roll, sondern sie verbreiten Angst: die Angst, von
Freunden geächtet zu werden, von Arbeitskollegen gemobbt, bei Twitter an
den Pranger gestellt. Kein Wunder, dass die meisten lieber schweigen, als
die eigene Ausgrenzung zu riskieren; ausgerechnet die liberale Mitte unsrer
Gesellschaft hört man im öffentlichen Gespräch kaum noch. Auch früher hat
man sich ordentlich gezofft, aber man wollte einander nicht vernichten.
Und das sehen Sie in Gefahr durch das, was heute so gerne Cancel Culture
genannt wird?
Ja. Ich bin bei jedem neuen Fall erstaunt, wie mutwillig das Wesen der
Kunst missverstanden wird und wie sehr etwa die Fähigkeit verlorengegangen
ist, mit Ironie umzugehen. Ironie ist ein ganz wesentlicher, vielleicht
sogar der wesentlichste Teil unserer DNA als 78er-Generation: vielleicht um
die weltanschauliche Fronten, zwischen denen wir groß wurden, von
vornherein aufzulockern; um festgefahrene Positionen beweglich zu machen
und dadurch auch verhandelbar. Überhaupt scheint mir der Umgang mit
literarischen Texten auf ein vorintellektuelles Niveau gefallen zu sein,
man nimmt sie heute immer häufiger beim Wort, selbst Figurenrede wird so
gelesen, als habe sich hier der Autor selbst geäußert. Und schon wird er
für Aussagen verurteilt, die er beispielsweise einem Verbrecher in den Mund
gelegt hat.
Sie leben seit dem vergangenen Frühjahr in Wien. Hat sich eingelöst, was
Sie sich davon erhofft hatten?
Ja, die Freude an der Sprache ist zurückgekehrt. Aber der Preis dafür ist
hoch. Meine Frau ist beruflich an Hamburg gebunden, wir müssen wieder
pendeln wie vor 30 Jahren. Natürlich genieße ich die Wiener Art des
Sprechens, sie sorgt nicht nur für einen verbindlicheren Ton, sie verändert
auch die Gedanken. Schon im Süden Deutschlands wird jeder Aussage durch die
Vorliebe für konjunktivische Formulierungen an Schärfe genommen, in Wien
kommt eine Eloquenz dazu, die selbst klare Thesen gegen Ende der
Argumentation auf eine charmante Weise in ihr Gegenteil verkehrt. Mitunter
höre ich in den politischen Kommentaren die Wendung, dieses oder jenes sei
„wieder mal eine typisch österreichische Lösung“. Man meint damit: halt n…
ein Kompromiss, etwa eine Reform, die als große Vision gestartet und als
Reförmchen geendet ist. Aber die Lebendigkeit einer Demokratie zeigt sich
gerade in der Fähigkeit zu Kompromissen; jeder beklagt sie zunächst aus
seiner Warte, am Ende arrangiert man sich damit.
9 Mar 2022
## LINKS
[1] /Grenzen-der-Debattenkultur/!5765381
[2] /Die-Wahrheit/!5833871
## AUTOREN
Alexander Diehl
## TAGS
Literatur
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