| # taz.de -- Grenzen der Debattenkultur: Kampf den Diskurswächtern | |
| > Immer enger werden die Grenzen für den politischen und kulturellen | |
| > Diskurs. Doch Debatten sind immer dann gut, wenn eigene Zwänge überwunden | |
| > werden. | |
| Bild: Wohin man auch blickt: Diskurswächter auf allen Seiten | |
| Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Texte, Features, Filme, Debatten – sie | |
| werden immer langweiliger. Oder anders gesagt: Das, worüber wir uns noch | |
| erregen können, wird immer belangloser. | |
| Hier über ein Stöckchen der Empörungsstrategien springen, da [1][mit | |
| Wortkanonen auf Spatzenhirne schießen] (wie jüngst gegen ein paar | |
| besserverdienende Medien-Routiniers, die ihren soziophoben Narzissmus auch | |
| noch „humorvoll“ verbreiten müssen), das ändert nichts daran, dass | |
| Langeweile die Grundstimmung der politischen und kulturellen Diskurse | |
| geworden ist. Der Blick verengt sich auf einen schrumpfenden Konsens. Und | |
| so sieht das aus: | |
| Schau links. Da stehen zwei Diskurswächter, die sich zugleich zoffen und | |
| ergänzen. Der eine hält Wacht über Identitätsrespekt und politische | |
| Korrektheit, fest überzeugt, dass wir es ohne ihn nicht hinkriegen, in | |
| Sprache und Bild achtsam zu sein. Das andere ist der soziale Anspruch. Das | |
| donnernde „[2][Zwischentöne sind nur Krampf, im Klassenkampf]“. (Mist, und | |
| ich habe doch so ein Faible für Zwischentöne!) | |
| Schau rechts. Da stehen wiederum zwei Diskurswächter. Das eine ist der | |
| stramme [3][Nazi oder Coronaleugner, der schlicht mit Gewalt droht]. Wir | |
| wissen, wo du wohnst! Volksverräter. Lügenpressler. Und der andere ist ein | |
| „konservativer Liberaler“, der behauptet, dass man doch alles noch mal | |
| sagen dürfen muss, damit eine Freiheit ist. Im T-Shirt (rot auf braun): | |
| „Beifall von der falschen Seite“. | |
| Schau nach vorn. Die Diskurswächter haben hier zwei schwere | |
| Grenzmarkierungen eingeschlagen. Die eine sagt, dass man gefälligst nicht | |
| „utopistisch“ sein darf, sondern ans Machbare denken. Die andere sagt, dass | |
| man keinen Alarmismus betreiben und keine Weltuntergangsstimmung verbreiten | |
| soll. Wenn man schon kritisiert, dann soll man gefälligst | |
| „Lösungsvorschläge“ machen. | |
| ## Der Raum des Sagbaren schrumpft | |
| Schau zurück. Hier lauern die Wächter, von denen einer sich energisch jede | |
| Nostalgie verbittet. Jaja, früher war alles besser. Wir waren schon mal | |
| weiter? Verschone uns damit! Der andere verbittet sich diese abscheuliche | |
| negative Dialektik. Was soll diese Suche nach langen historischen Wurzeln, | |
| heute geht es ums Rechthaben, nicht um Dialektik! | |
| Schau nach unten. Doch hier lauert schon der Diskurswächter mit der Keule | |
| „[4][Klassismus]“. Elitär oder anbiedernd, falsch ist beides. Und dann gibt | |
| es „Leute, für die das Recht, in der Scheiße zu leben, höher rangier als | |
| das, nicht in der Scheiße zu leben – für manche ist es schlimmer, wenn man | |
| sie von oben herab behandelt, als dass man sie verrohen lässt“. So | |
| jedenfalls sieht es Taylor Parkes im Hinblick auf linksliberale Patronage. | |
| Und der zweite Diskurswächter? Mach dich mal locker, Alter. So’n bisschen | |
| Regression und Entertainment, das wirste doch noch liefern können. | |
| Schau nach oben. Je genauer du dorthin schaust, desto deutlicher wird, dass | |
| da Leute sind, die wirklich Macht über den Medienmarkt haben. Wenn du | |
| einigermaßen über die Runden kommen willst, leg dich nicht mit ihnen an. | |
| Und auch dieser Diskurswächter hat einen Begleiter, das ist der Glamour. Du | |
| kannst etwas abbekommen, vom Reichtum und von der Macht, dabei sein | |
| wenigstens, wenn sich das feiert. Ein Häppchen Kaviar hier, ein Schritt in | |
| der Sonne der Wichtigkeit? | |
| Okay. Wir sind umzingelt von Diskurswächtern, die mit sehr | |
| unterschiedlichen Mitteln klar machen, was gesagt werden kann und was | |
| nicht. Der Raum des Sagbaren, logisch, schrumpft. Und der primäre Impuls, | |
| ihn zu begrenzen, ist nicht mehr die Kritik, sondern das Verbot oder mehr | |
| noch: ein Verschwinden-Machen, ein Zum-Schweigen-Bringen. | |
| ## Langeweile und Hysterie | |
| Die linksliberale „[5][Cancel-Kultur]“ ist dabei vielleicht nur ein | |
| hilfloser Reflex auf eine allgemeine Wanderung des Sagbaren nach rechts. | |
| Sie ist ein Klacks gegen die wirkliche Macht des Schweigen-Machens, eignet | |
| sich aber für das Pendant der Langeweile: die Hysterie. Dabei wissen wir es | |
| nur zu gut: Die Furcht davor, etwas Falsches zu sagen, wird größer als die | |
| Hoffnung, etwas Neues und „Riskantes“ zu sagen. Denn mit den erwähnten | |
| Diskurswächtern ist es ja nicht getan. | |
| Wir leben und arbeiten in Medien, die einst das kulturelle Rückgrat der | |
| demokratischen Zivilgesellschaft bildeten und jetzt auf der Kippe stehen. | |
| Sie müssen auf Teufel komm raus einen Markt erhalten, der so prekär wird, | |
| dass jeder schlecht gelaunte Leser*innen-Kommentar eine Alarmglocke | |
| läutet. So steht man unter einem Popularisierungszwang, und die | |
| Schlüsselfrage wird: Was kann man den Leser*innen, Zuhörer*innen, | |
| Zuschauer*innen (noch) zumuten und was nicht? | |
| Zugleich wird das Sparen zum zweiten Selbsterhaltungsmittel. Der Sparzwang | |
| wiederum macht gute Arbeit für Texte, Features, Filme und Debatten stets | |
| schwieriger. Duckmäuserische Langeweile und wohlfeile Empörung über das | |
| vorhersehbar Empörungssuchende, die als Reaktion auf all das erzeugt wird, | |
| kann kurzfristig das Überleben von Medien sichern, deren glorreiche | |
| Vergangenheit … ups, da sind wir schon wieder an der Diskurswacht. | |
| Aber schon mittelfristig ist abzusehen, dass diese Wechselbäder von | |
| Hysterisierung und Langeweile keine Basis für eine dringend notwendige | |
| Erneuerung sein können. Diskurse und Debatten sind immer nur so gut, so | |
| weit sie ihre Wächter*innen und ihre Zwänge überwinden. | |
| 5 May 2021 | |
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| Georg Seeßlen | |
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