# taz.de -- Paul McCartneys Songtexte in Buchform: Umsteigen in der Penny Lane | |
> Im opulenten Band „Lyrics“ denkt Paul McCartney über seine Songs nach, | |
> über die mit den Beatles und auch die danach. Ein Weltkulturerbe für | |
> sich. | |
Bild: Paul McCartney in einem Kirschbaum | |
„[1][Penny Lane is in my ears] and in my eyes/ A four of fish and finger | |
pies“. Duft und Beschaffenheit einer Tüte Fish ’n’ Chips aus einem | |
„Chippy“, einer Frittenbude an der Penny Lane. So heißt eine Liverpooler | |
Straße, die von einem Roundabout wegführt, an dem Paul McCartney mit dem | |
[2][Bus] umsteigen musste, wenn er zur Kirche St. Barnabas fuhr, wo er als | |
Kind im Chor gesungen hatte. | |
Dort befindet sich auch ein Friseursalon, in dem sich McCartney und die | |
anderen Beatles in den späten 1950ern die Haare schneiden ließen. „In | |
seinem Schaufenster stellt er Fotos von Haarschnitten aus“, so beginnt | |
McCartneys Songtext und er endet damit, dass der Vortragende die Farbe des | |
Himmels an einem gewöhnlichen Tag benennt. McCartneys Liverpooler | |
Workingclass-Herkunft spielt eine große Rolle in vielen seiner mehr als 500 | |
Songs, genau wie sein Aufstieg aus jener kleinbürgerlichen Enge zum | |
Weltstar. | |
Unterschiedliche Quellen liegen den Hits zugrunde, die McCartney – teils | |
gemeinsam mit John Lennon – für die [3][Beatles] komponierte; in den | |
Hooklines, die er mal aus der Welt der Music Halls entlehnte, zu denen er | |
sich mal von den Experimenten eines Karlheinz Stockhausen anregen ließ. | |
## Das Banale ist fantastisch | |
Ähnlich mischt sich in McCartneys Texten Banales mit Fantastischem und legt | |
genau wie in seinem Bassspiel eine lyrische Ader frei. Von heute aus hat | |
der Alltag, wie [4][McCartney] ihn in „Penny Lane“ schildert, Anklänge an | |
die Lyrik von Lewis Carroll, die Theaterstücke von Harold Pinter und einer | |
Hörspielfassung von Dylan Thomas’ „Under Milk Wood“, die Anfang der 1960… | |
von der BBC gesendet wurde. Auskünfte wie diese machen den opulent | |
aufgemachten zweibändigen Sammelband „Lyrics. 1956 bis heute“, in dem der | |
britische Weltstar ausführlich über seine Songs nachdenkt, so wertvoll. | |
Erinnerungen an glanzvolle Zeiten werden nun, wo er in wenigen Wochen | |
seinen 80. Geburtstag feiert, vermutlich wichtiger werden: Denn Paul | |
McCartney, den seine Fans wie einen Fußballer stets „Macca“ nennen, blickt | |
auf eine beispiellos lange Karriere und einen großen Fundus eigener Songs. | |
Mit dem Komponieren begonnen hat McCartney bereits als 14-Jähriger, 1956, | |
und bis jetzt hat er damit nie aufgehört. | |
Entstanden ist „Lyrics“ in Zusammenarbeit mit dem britischen Dichter Paul | |
Muldoon. Auf mehr als 900 Seiten sind McCartneys Songtexte alphabetisch | |
geordnet und um Fotos und Dokumente aus seiner Songwriter-Karriere ergänzt. | |
## Alltag in der Patchworkfamilie | |
Nicht nur die Evergreens, auch weniger bekannte, gleichwohl tolle Songs wie | |
„Waterfalls“, eine Single, veröffentlicht 1980, aber vermutlich früher | |
komponiert, wie McCartney erinnert, werden hier seziert. „Der Sprecher des | |
Songs klingt sehr nach mir, wenn ich mit meinen Kindern rede.“ McCartney | |
war immer ein Familienmensch, der avant la lettre mit seiner Frau Linda | |
Eastman, die aus einer früheren Ehe ein Kind mitgebracht hatte, in einer | |
Patchworkfamilie lebte. | |
Nach der Trennung der [5][Beatles] wurde Paul McCartney von einer schweren | |
Depression aus der Bahn geworfen, wie sein Song „Maybe I’m amazed“ von 19… | |
chiffriert zwar, aber doch thematisiert. Zu allen Liedern liefert der | |
Songwriter Kommentare, beiläufige Bemerkungen, manches auch grundsätzlicher | |
Natur. Zu „Why don’t we do it in the Road“ fällt ihm ein, dass er das Li… | |
mit Beatles-Drummer Ringo Starr in einer Nacht 1968 im Studio aufgenommen | |
hat, nachdem er kurz zuvor in Indien Affen auf einem Baum beim Kopulieren | |
beobachtet hatte. | |
In jener Zeit ist McCartneys Tochter Mary geboren und zuvor suchte er eine | |
Beratungsstelle für Familienplanung auf und zitiert pflichtbewusst aus der | |
Broschüre „Von der Empfängnis bis zur Geburt“, die er dort erhalten hat. | |
Damals galt er als der Bourgeois, während die Sympathien der Fans eindeutig | |
beim Bohemien John Lennon lagen. | |
## Tiefenbohrung im Archiv | |
„Lyrics“ fußt auf fünfjährigen regelmäßigen Gesprächen der beiden Pau… | |
aus mehr als 50 Stunden Interviewmaterial wurde Material destilliert. Dazu | |
haben Mitarbeiter:innen von McCartneys Managementfirma sein Archiv | |
gesichtet und viele unveröffentlichte Fotos zutage gefördert, die | |
McCartneys Frau, die Fotografin Linda Eastman, gemacht und gesammelt hat. | |
„Texte sind an sich schon eine Form von Musik, die im Zusammenspiel mit | |
einer Melodie eine noch größere Magie gewinnen können“, schreibt McCartney | |
im Vorwort. Vernunft und Lakonie wirken bei ihm nicht gespielt. Hört man | |
sich seine Songs nun zusammen mit den Schilderungen im Buch an, dann tritt | |
sein britisches Understatement so deutlich hervor wie bei anderen Rockstars | |
die Drastik. | |
Nach Auflösung der Beatles, 1970, ist McCartney mit seiner Band Wings aktiv | |
gewesen oder als Solist und hat, teils im Alleingang, gute bis sehr gute | |
Alben aufgenommen. Eine Karriere, die nun schon viermal so lange dauert wie | |
die gemeinsame Zeit mit den Beatles und doch im Schatten des Quartetts | |
steht. Etwas ungerecht, wenn man sich den irischen Folkpopsong „Mull of | |
Kintyre“ anhört, eine der meistverkauften britischen Singles aller Zeiten, | |
oder das wunderbar verspielte elektronisch grundierte Soloalbum „II“ von | |
1980, zu dessen Songs heute wieder in Clubs getanzt wird. | |
## Pragmatiker der Fab Four | |
McCartney hatte es in seiner Rolle als Pragmatiker der Fab Four in der | |
Beliebtheitsskala schwer. Aus der Auflösung kam er zunächst beschädigt als | |
der Spielverderber hervor, der den von Lennon engagierten US-Manager Allen | |
Klein vergrault und später verklagt hatte. Damit rettete McCartney zwar die | |
Publishing Rights und somit die Einnahmen der Bandmitglieder, aber bekam | |
dafür von seinen Ex-Kollegen keinerlei Dank. | |
Anders als Lennon gab McCartney in den frühen 1970ern nur wenige | |
Interviews. „Lennon McCartney“ steht wie eine magische Formel in | |
zahlreichen Credits. John Lennon und Paul McCartney schrieben Musik und | |
Worte vieler Songs oft gemeinsam, und doch galt Lennon als der | |
intellektuelle Kopf der Band, während McCartney bald die Aura eines | |
Geschäftsmanns anhaftete. | |
## Lennon McCartney | |
Ihre Nachnamen haben sich so verselbstständigt, dass der US-Künstler Jim | |
O’Rourke lange Zeit glaubte, hinter „Lennon McCartney“ verberge sich eine | |
dritte Person! Von heute aus erklärt McCartney das Verhältnis zu Lennon in | |
„Lyrics“ als selbst in schwierigen Momenten professionell und bezeichnet | |
ihre Künstlerbeziehung als kreative Konkurrenz. Die beiden hätten sich beim | |
Musikmachen immer ergänzt und geholfen, selbst in Fragen der | |
Lebensgestaltung, auch wenn sie sich über Details uneinig waren, schreibt | |
er. | |
Interessanterweise taucht Paul McCartney auch in Michel Houellebecqs viel | |
diskutiertem neuen Roman „Vernichten“ auf. Dessen Protagonist trägt den | |
gleichen Vornamen wie McCartney: Paul Raison ist ebenso vernunftgetrieben | |
wie seine Frau Prudence, sie ist nach dem Beatlessong „Dear Prudence“ | |
benannt, dessen charakteristischen Drumbeat übrigens McCartney eingespielt | |
hat. Das Paar nähert sich einander nach einer langen, schwierigen Beziehung | |
wieder an. | |
Raison fragt sich an einer Stelle, ob er der Güte von McCartney entspricht, | |
und er macht sich über die Generation der Babyboomer, der auch McCartney | |
angehört, ausführliche Gedanken. Diese stehe „mit dem einzigartigen Moment | |
in Verbindung, in dem sich zum ersten Mal in der Weltgeschichte die | |
populäre Kulturproduktion gegenüber den kulturellen Hervorbringungen der | |
Elite als ästhetisch überlegen erwiesen“ habe, legt Houellebecq seinem | |
Protagonisten in den Mund. | |
Wobei das ständige Aufrechnen Popkultur versus Hochkultur gar nicht nötig | |
ist. Paul McCartneys Songs gehören längst zum Weltkulturerbe. Wir kennen | |
sie, schätzen sie und bringen jeweils ganz persönliche Erinnerungen mit | |
ihnen in Verbindung. Das ist McCartneys eigentliche Leistung. | |
20 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=S-rB0pHI9fU | |
[2] /Pop-und-Protest-in-Londoner-Ausstellung/!5335802 | |
[3] /Jubilaeum-des-Beatles-Albums-Sgt-Pepper/!5409394 | |
[4] /Paul-McCartney-auf-Welttournee/!5555044 | |
[5] /Kuenstler-Peter-Blake-ueber-Pop-Art/!5568903 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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