| # taz.de -- Die Wahrheit: Wunder Tür | |
| > Zu den mechanischen Mirakeln, die sich dem menschlichen Geist ebenso | |
| > verschließen wie öffnen, gehört zweifelsohne die Tür. | |
| Und so stand ich dann vor dem Wunder namens Tür. Man unterscheidet zwischen | |
| einerseits „Naturwundern“ wie Leben, Geburt, Verdauung oder Firmament und | |
| andererseits menschengemachten Wundern. Zu Letzteren gehört, neben | |
| Geigenspiel, Lesebrille und Elektronik, auch die Tür. Schon früher waren | |
| mir Türen – so lautet der Plural – begegnet, daher wusste ich, worum es | |
| sich handelte. | |
| Eine Tür ist eine Schwachstelle der Wand, doch gleichwohl ungemein | |
| nützlich, wenn ein hinter der Wand gelegener Raum – es kann auch ein | |
| räumlicher Außenbezirk wie das sogenannte Freie sein – erreicht werden | |
| soll, ohne die Wand auf umständliche Weise zu durchbrechen. Anders als | |
| Lappen, die in Wandöffnungen gehängt werden, kann so eine aus Holz oder | |
| Metall gefertigte Tür durchaus ein guter Ersatz für das öffnungsbedingt | |
| fehlende Stück Wand sein. Hinzu kommt der vorteilhafte Effekt ihrer | |
| Beweglichkeit. | |
| Türen werden gern an sogenannten Scharnieren befestigt, sodass sie, je nach | |
| Notwendigkeit, in Schwingung versetzt werden können. Dadurch lassen sie | |
| sich sowohl öffnen als auch schließen. Auf der den Scharnieren | |
| gegenüberliegenden Seite ist bei einer Tür in praktischer Höhe ein | |
| Mechanismus angebracht, für dessen Bestandteile Ausdrücke wie „Griff“ oder | |
| „Klinke“, „Schloss“ und „Riegel“ erfunden wurden. | |
| Dieser Mechanismus findet seine funktionale Entsprechung (Einrastung) an | |
| einer unmittelbar benachbarten Stelle des Türrahmens. Man muss das alles | |
| selbst gesehen und ausprobiert haben. Beschreiben lässt es sich kaum. | |
| Die Tür, vor der ich nun stand, war also ein nützlicher Gegenstand. Zu mir | |
| in Beziehung gesetzt, wirkte sie um so nützlicher, denn sie konnte mir von | |
| Nutzen sein. Weil ich sonst nicht in den – zumindest theoretisch | |
| vorausgesetzten – Raum hinter ihr gelangen, ja nicht einmal einen Blick in | |
| denselben werfen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als den | |
| Öffnungsmechanismus in Gang zu setzen. | |
| Es ist jedoch ganz unmöglich, diesen komplexen Vorgang mit Worten auch nur | |
| einigermaßen anschaulich zu schildern. Das Werkzeug der menschlichen | |
| Sprache ist dazu ungeeignet, der menschliche Verstand sieht sich | |
| hoffnungslos überfordert. | |
| Eingeleitet wurde der Prozess mit einem dreimaligen „Anklopfen“, das heißt, | |
| ich klopfte mit dem mittleren Gelenkknochen meines rituell eingebogenen | |
| Zeigefingers vernehmlich an die Holzplatte, aus der die Tür zum größten | |
| Teil bestand. Dann erst erfolgten die Manipulationen an oben erwähntem | |
| Mechanismus. Während die Tür selbst schon ein Wunder war, ereignete sich | |
| nun auch noch, von meiner Hand und vor meinen Augen, das Wunder ihrer | |
| Öffnung. Ich war sein Urheber und Zeuge zugleich! | |
| Zweifellos gehört große seelisch-nervliche Festigkeit dazu, die Wandlung | |
| des Anblicks zu verkraften, die stattfindet, wenn die Tür dem Druck der | |
| Hand nachgibt, aufschwingt und dem Durchgangswilligen zuletzt einen neuen | |
| Raum offenbart. | |
| 15 Feb 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
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