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# taz.de -- Die Wahrheit: Die geladene Pistole
> Eine Waffe liegt mit der Mündung zur Wand in der Ecke eines Ladens.
> Still. Vergessen. Bis sie in einem Schaufenster wieder auftaucht …
Der Strom der Ereignisse spülte eine geladene Pistole in meine rechte Hand.
Ich betätigte probehalber den Abzug, doch nichts geschah. Ich versuchte es
noch einmal, und wieder löste sich kein Schuss. Da mir klar war, dass die
beiden festsitzenden Schüsse jederzeit unkontrolliert den Lauf der Pistole
verlassen konnten, legte ich die Waffe mit der Mündung zur Wand in eine
Ecke. Dort lag sie fortan ganz still, und bald hatte ich sie vergessen.
Wochen später wurde ich vom Strom der Ereignisse in einen verlassenen Teil
der Innenstadt gespült. Im Schaufenster eines der vielen leerstehenden
Geschäfte entdeckte ich die Pistole, die ich daheim in einer Ecke liegend
wähnte. Nicht nur erkannte ich sie zweifelsfrei, sondern sah ihr auch an,
dass in ihrem Lauf noch immer die zwei von mir ausgelösten Schüsse
steckten. Jederzeit konnten sie krachend herausfahren, die
Schaufensterscheibe durchschlagen und jemanden treffen.
Ich fragte mich, wie um alles in der Welt die Pistole in diese Auslage
gelangt sein konnte. Weil ich mich für sie verantwortlich fühlte, konnte
ich die Gefahr, welche sie für die Öffentlichkeit darstellte, nicht
ignorieren und einfach weitergehen. Die Eingangstür des Ladens war
geöffnet, aber im Verkaufsraum hielt sich niemand auf. Am liebsten hätte
ich die Waffe schnell aus dem Fenster geholt, um sie wieder an einen
sicheren Ort zu bringen.
Den Gedanken an den Transport eines so gefährlichen Gegenstands fand ich
jedoch beängstigend, zudem fürchtete ich, bei dem „Diebstahl“ von jemandem
überrascht zu werden. Und tatsächlich kam in diesem Moment ein älterer Mann
aus dem Hinterzimmer. Er trug einen Reisekoffer und begann, den Fußboden
damit zu fegen. Ich wurde von meinem Gewissen in den Laden gestoßen.
Erstaunt blickte der Mann von seiner Arbeit auf. Ich grüßte ihn kurz, dann
erkundigte ich mich nach der Pistole im Schaufenster.
„Tut mir leid, die ist unverkäuflich“, sagte der Mann. „Sie war schon im…
hier. Aber wenn Sie wollen, können Sie hier im Laden wohnen. Mit der
Pistole.“
„In diesem Laden wohnen?“, erwiderte ich überrascht. „Das könnte ich mi…
von allem anderen einmal abgesehen, überhaupt nicht leisten.“
„Ich würde weiterhin die Miete bezahlen. Wenn Sie hier wären und
aufpassten, könnte ich mich auf die Suche nach meiner verschollenen
Zwillingsschwester konzentrieren, ohne den Laden schließen zu müssen.“
„Wie lange kann es denn dauern, bis Sie Ihre Schwester gefunden haben?“
„Vielleicht Jahre, vielleicht Jahrzehnte.“
Unter diesen Umständen sah ich keinen Grund, das Angebot abzulehnen. Ich
holte die Pistole aus dem Schaufenster und legte sie mit der Mündung zur
Wand in eine Ecke des Hinterzimmers. Dann kündigte ich meine Wohnung und
übersiedelte in das Ladenlokal.
Nachdem der Inhaber zu seiner Suche aufgebrochen war, legte ich mich, um
möglichst sicher vor Ereignissen zu sein, mit dem Mund zur Wand neben die
Pistole.
18 May 2021
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Groteske
Waffen
Horror
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