Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Lebendige Totgeburt
> In diesen schweren Zeiten eine Geschichte zu erzählen, ist nicht leicht –
> vor allem wenn sich das Personal unvorhergesehen verselbstständigt.
Eine Totgeburt war die Geschichte schon deshalb, weil es überhaupt keine
Hoffnung auf Ideen für eine Handlung gab. Außer der Anzahl und den Namen
der beteiligten Personen sowie der vagen Vorgabe, dass dieselben auf einer
sich selbst verdauenden Insel irgendwelchen Tätigkeiten nachgehen sollten,
existierte nichts. Es war nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um
menschliche Protagonisten handelte. Der Autor erwog vorübergehend, die
Inselbewohner künstliche Wissenschaftler sein zu lassen, die vor Jahren
eingesetzt worden waren, um Verschiedenes zu erforschen.
„Infolge einer Katastrophe könnten sie für längere Zeit sich selbst
überlassen gewesen sein und, nachdem ihre neuronalen Schaltkreise nicht
mehr regulär gesteuert wurden, ein seltsames Eigenleben entwickelt haben“,
lautete eine handschriftliche Notiz des Autors. Welcher Natur dieses
Personal auch sein mochte – es bestand jedenfalls aus der Botanikerin
Weingarten, dem Folkloreforscher De Witt, der Geologin Auer und dem
Linguisten Dolzmann.
Einer anderen Notiz des Autors ist zu entnehmen, dass irgendwann ein junger
Mann namens Radsport von Thermostat hinzukommen sollte, indem er über
Nacht von selbst entstand. Anschließend sollten sich die vier anderen an
keine Zeit ohne ihn erinnern können. Dieser weitere Protagonist war als
Handlungsträger gedacht. Der Notiz zufolge besaß er in Bezug auf die
lokalen Verhältnisse vage angeborene Kenntnisse, die jahrelanger Erfahrung
entsprachen. Ihm sollte die Aufgabe zufallen, Regen anzubahnen, Wolken
herbeizureden und Sturm zu vergrämen.
Wäre diese Geschichte je geschrieben worden, könnten wir jetzt Radsport von
Thermostat dabei erleben, wie er am Morgen seine kleine eingeschossige
Holzhütte verlässt, um Regen für den neuen Tag anzubahnen. Dazu muss er
wenigstens eine Viertelstunde lang im Freien herumlaufen und sich auf die
Vorstellung konzentrieren, es habe bereits ergiebig geregnet. Parallel dazu
halluziniert er den Geschmack einer reifen Banane. In der Nähe des
Geräteschuppens läuft ihm der Folkloreforscher De Witt über den Weg.
„Auer und Dolzmann sind weg“, berichtet De Witt. „Seit wann?“, erkundig…
sich Radsport von Thermostat und erfährt: „Seit gestern. Es war keine Rede
davon, dass sie irgendwohin wollten.“
Radsport von Thermostat hat die beiden immer etwas undurchsichtig gefunden.
Ihm gegenüber sind sie stets reserviert und spröde gewesen. Was weiß er
schon von ihnen? Die Geologin Auer führt regelmäßige Unterwassermessungen
durch, und von Dolzmann heißt es, er beschäftige sich mit der Entwicklung
einer „streng monotonen“ neuen Verdauungssprache. „In dieser Sprache wür…
ich gern die Insel besingen“, hat De Witt einmal zu Radsport von Thermostat
gesagt, als sie über die Inselfolklore sprachen.
„Die sind garantiert bald wieder da“, meint Radsport von Thermostat, und
damit ist die Unterhaltung beendet.
2 Feb 2021
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Groteske
Literatur
Nonsens
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Jugend am Abgrund
Im Hintergrund spielt Beat-Musik. Um einen Schaukelstuhl herum sitzt eine
Gruppe Jugendlicher und verhandelt den Fall Tartiner.
Die Wahrheit: Sinnestäuschung mit Todesfee
Wenn ein Autor die Rolle der im Text eigentlich vorgesehenen Hauptfigur
einnimmt, kann das zu schwierigen Geschäftsverhandlungen führen.
Die Wahrheit: Die geladene Pistole
Eine Waffe liegt mit der Mündung zur Wand in der Ecke eines Ladens. Still.
Vergessen. Bis sie in einem Schaufenster wieder auftaucht …
Die Wahrheit: Alle je getragenen Kleidungsstücke
Auf dem Weg zu einer Spende für das Museum aller Museen können abseitige
Spekulationen die Routen des Gehirns kreuzen.
Die Wahrheit: Der Beginn der dunklen Zeit
Manchen steckt es im rechten Finger, manchen im rechten Bein. Bei Lubrik
Allmann ist die Sache klar: auf einem Bein kann man nicht stehen.
Die Wahrheit: Inselgeschichte mit Komplikationen
Um nicht völlig zu verstummen, hilft einem Autor beim Verfassen einer
Erzählung, die eigentlich eine Totgeburt ist, der Schreibzwang.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.