# taz.de -- Die Wahrheit: Inselgeschichte mit Komplikationen | |
> Um nicht völlig zu verstummen, hilft einem Autor beim Verfassen einer | |
> Erzählung, die eigentlich eine Totgeburt ist, der Schreibzwang. | |
Die Inselgeschichte war von Anfang an eine Totgeburt gewesen. Dem Gesetz | |
folgend, dass etwas umso dauerhafter ist, je radikaler es dem zuwiderläuft, | |
was gemeinhin Vernunft genannt wird, schien sich der Gedanke an eine solche | |
Geschichte im Bewusstsein des Autors festgesetzt zu haben. Der Versuch, die | |
Geschichte dann tatsächlich zu schreiben, geriet zu einer hoffnungslosen | |
Affäre. | |
Es musste schon ein alarmierender Mangel an Inspiration bestehen, wenn sich | |
jemand in seiner Not an ein solches Thema klammerte, um überhaupt eins zu | |
haben. Allein sein Schreibzwang hinderte den betroffenen Autor am völligen | |
Verstummen. Der Schreibzwang wiederum bezog seine Antriebskraft aus der | |
Hoffnungslosigkeit, deren unerschöpfliches Energiereservoir er parasitär | |
anzuzapfen verstand. | |
Für einen bis zur geistigen Zerrüttung uninspirierten Autor, den sein | |
unseliger Schreibzwang einer derartigen Thematik in die Fänge trieb, mochte | |
die Neigung typisch sein, mit grimmigem Vergnügen auf Absurditäten | |
sprachlicher Art zu lauern, um sie für seine Zwecke zu nutzen. Presse, | |
Rundfunk und Fernsehen lieferten ihm überreiche Beute. | |
In einem Rundfunkbeitrag hörte der Autor eines Abends, ein Straßenname sei | |
umbenannt worden. Wohlgemerkt: Nicht eine Straße habe einen neuen Namen | |
bekommen, sondern ein Straßenname. Natürlich handelte es sich bei dieser | |
unsinnigen Formulierung um Schlamperei, eine leider auch bei Journalisten | |
häufige sprachliche Unzulänglichkeit. Nahm man die Formulierung jedoch | |
wörtlich, wurde sie zu einem ausgesprochen wilden Gedanken, der das | |
menschliche Vorstellungsvermögen sprengte. Auf einer unvorstellbaren | |
immateriellen Ebene hatte auf nicht denkbare Weise eine sich jeder Fantasie | |
entziehende, jeder Vernunft spottende Veränderung stattgefunden! | |
Es gab keine Antwort darauf, wodurch und warum diese Veränderung ausgelöst | |
worden war, doch wenn so etwas bei Straßennamen geschehen konnte, lag die | |
Annahme nahe, dass auch Vor- und Familiennamen von Menschen davor nicht | |
sicher waren. Das verhalf dem Autor zu der Idee, der Name einer Figur in | |
seiner hoffnungslosen Inselgeschichte sei auf jener unvorstellbaren | |
immateriellen Ebene umbenannt worden und laute seither Radsport von | |
Thermostat (nach einem Übersetzungsfehler in einer Gebrauchsanleitung für | |
chinesische Ölradiatoren). | |
Zum Ursprung ihrer Existenz befragt, würde die betreffende fiktive Person | |
zu Protokoll geben: „Eines Morgens erwachte ich hier, auf dieser Insel. Ich | |
musste über Nacht entstanden sein, denn vorher hatte es mich nicht | |
gegeben.“ Die Figur besäße zwar eine eigene Identität, jedoch keinerlei | |
Vergangenheit vor dem Morgen ihres Erwachens. Der Autor machte sich daran, | |
ihre Persönlichkeit zu skizzieren und notierte: „Nicht völlig zu Unrecht | |
vermutete Radsport von Thermostat, die gesamte Welt sei mit ihm und | |
seinetwegen entstanden.“ | |
13 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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