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# taz.de -- Die Wahrheit: Alle je getragenen Kleidungsstücke
> Auf dem Weg zu einer Spende für das Museum aller Museen können abseitige
> Spekulationen die Routen des Gehirns kreuzen.
Abermals waren wir mit einer Holzspende unterwegs zum Louvre. Um nicht zu
Fuß gehen zu müssen, fuhren wir mit dem Zug. Während der nicht sehr langen
Fahrt kamen wir auf die Kleidungsstücke zu sprechen, die wir in unserem
Leben schon besessen und getragen hatten. Wir spekulierten darüber, wie
groß ihre Gesamtzahl sein mochte und ob wir ihnen gerecht geworden seien
und wie schnell wir sie jeweils, wenn sie abgetragen waren, zugunsten neuer
vergessen hatten.
Unweigerlich stießen wir dabei an die Grenzen unseres Erinnerungs- und
Vorstellungsvermögens. Ich zitierte zusammenfassend die alte Elsässer
Volksweisheit: „Im Leben kommt ganz schön was zusammen.“ Beruhigend wirkte
der durch und durch vernünftige Satz, den eine von uns zuletzt sprach:
„Wenn man sich an alle Kleidungsstücke erinnern könnte, die man je getragen
hat, käme man zu nichts im Leben.“
Nachdem der Zug unser Fahrtziel, den Louvre-Bahnhof, erreicht hatte,
stiegen wir mit unserer Holzspende aus. An Kleidungsfragen dachte nun
niemand mehr. Wie üblich, wurden die Regenschirme aller Passagiere an einer
dafür vorgesehenen Stelle auf einen Haufen geworfen. Mein Kommentar dazu
lautete damals wie heute: „Dieser Brauch ist, mit Verlaub, unsinnig und
sollte schnellstens abgeschafft werden.“
Ich nahm mir vor, mich in der Sache offiziell zu beschweren. Es musste eine
zuständige Stelle bei der Bahn geben, wie es bekanntlich eine beim Louvre
gab. „Der Leiter der Beschwerdestelle 'Holz’ im Louvre“, hieß es, „rei…
sich während der Dienststunden Haare aus den Ohren. Seine Schreibtischuhr
ist stehengeblieben. So kann er nicht arbeiten.“
Bis zur Annahme- und Ausgabestelle für Holzspenden waren es noch gut
hundert Meter. Ohne jede Schwierigkeit legten wir auch diese Distanz zurück
und gaben unsere Spende ordnungsgemäß ab. Anschließend standen wir im
Freien vor dem Louvre. Soeben hatten wir eine namhafte Holzspende geleistet
und lachten nun befreit. Wir lachten aus unserer Kleidung heraus, die uns
fast ganz umhüllte, um uns eine Heimstätte zu gewähren in der Welt.
„Es ist gut zu lachen“, sprach ich, „doch es ist auch gut, Holz gespendet
zu haben.“ Jemand von uns scherzte: „Ich möchte nicht wissen, wie viel Holz
ich schon gegessen habe.“ Eine andere Person rief: „Jetzt noch ein
holzfreies Getränk!“
Und wie wir so dastanden, uns gegenseitig festhielten und Ausschau nach
einer Schankwirtschaft hielten, näherte sich ein Motorengeräusch. „Jesus,
der 622er Bus!“, kreischte mein Bruder auf Verdacht. Es war jedoch kein
Linienbus, sondern ein Lautsprecherwagen. Aus dem Lautsprecher tönte es
dröhnend: „Hallo, hallo, wir können noch nichts Genaues sagen, daher sagen
wir jetzt erst mal nichts.“
Später stellte sich heraus, dass ich gar keinen Bruder hatte. Der
behandelnde Arzt hatte lediglich einen Fehler beim Ausfüllen meiner
Patientenakte gemacht.
17 Nov 2020
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Groteske
19. Jahrhundert
Louvre
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Kriminalität
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