# taz.de -- Die Wahrheit: Sinnestäuschung mit Todesfee | |
> Wenn ein Autor die Rolle der im Text eigentlich vorgesehenen Hauptfigur | |
> einnimmt, kann das zu schwierigen Geschäftsverhandlungen führen. | |
Als sein Verfasser weiß ich sehr wohl, dass es hier um den vorliegenden | |
Text geht. Er sollte eigentlich von Partizia Ohm handeln, doch sie ist | |
nicht beschreibbar. Weit davon entfernt, mir einen Ersatzprotagonisten | |
leisten zu können, übernehme ich die undankbare Rolle der Hauptperson also | |
selbst. Immerhin bin ich eine beziehungsweise die Sinnestäuschung von | |
Partizia Ohm. | |
Demzufolge werde ich häufig gefragt: „Sind Sie nicht die Sinnestäuschung | |
von Frau Ohm?“ Meist pflege ich zu antworten, ich wisse von keiner Frau | |
Ohm, sondern sei souverän aus dem dröhnenden Brummen eines minderwertigen | |
Kühlschranks hervorgegangen. Einmal soll ich sogar gesagt haben: „Aus dem | |
dröhnenden Brummen des Kühlschranks habe ich eine Zukunft gewonnen: die | |
Gegenwart.“ | |
Man mag darüber streiten, ob das hierher gehört oder nicht. Nach diesen | |
Präliminarien soll nun der eingangs angekündigte eigentliche Text folgen. | |
Oft vergaß ich, morgens zur Arbeit zu fahren, obwohl ich am Abend zuvor | |
noch daran gedacht hatte. Nach dem mühsamen Erwachen konnte ich mitunter | |
nicht einmal meinen linken Fuß oder dergleichen finden. Wenn ich dann zu | |
meiner beruflichen Tätigkeit befragt wurde, konnte es geschehen, dass ich | |
angab: „Ich erarbeite ein winziges Holzstück.“ Es war, als schlüge man ein | |
Taschenbuch an der unteren rechten Ecke für ein paar Zentimeter auf, und es | |
würde bloß unbedrucktes Papier sichtbar. | |
Seit dem Vortag war wieder ein Monat vergangen. Ich kam am Nachmittag in | |
(Ortsname war auf allen Schildern geschwärzt) an, um mit dem Inhaber einer | |
großen Textilmanufaktur einen Liefervertrag über mehrere Partien | |
Polar-Seide abzuschließen. Es hatte stark geschneit, und mein Kraftfahrzeug | |
war das letzte gewesen, das die Wachen auf der Beldrich-Brücke noch in die | |
Stadt gelassen hatten. | |
Etwa zur gleichen Zeit begannen die Orchesterproben in der städtischen | |
Reithalle. Ich stellte meinen Wagen vor dem neogotischen Rathaus ab und | |
begab mich zu der Textilmanufaktur in der Feuermannstraße. Der Inhaber saß | |
bereits aufrecht an seinem Verhandlungstisch und wartete. Er hat etwas von | |
einer Todesfee, dachte ich. | |
„War nicht ursprünglich geplant, dass ich mit einer Dame namens Praktizia | |
Ohm verhandeln sollte?“, fragte mich der Inhaber streng. Seine fehlerhafte | |
Aussprache des weiblichen Vornamens kulanterweise überhörend, antwortete | |
ich, dass ich die Sinnestäuschung von Frau Ohm und somit vertrauenswürdig | |
sei. Nach diesen Worten setzte ich mich auf einen Stuhl. | |
„Es ist eine Schande, wie die Tage vergehen“, sprach der Firmeninhaber | |
missmutig, woraufhin ich bestätigte: „Ja, die Tage vergehen, dass es eine | |
Schande ist.“ Wir einigten uns erstaunlich schnell in allen Punkten des | |
Liefervertrags. Am Rand meiner Vertragsausfertigung notierte ich mit | |
Bleistift: „Erstaunlich schnelle Einigung in allen Punkten.“ | |
8 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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