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# taz.de -- Die Wahrheit: Jugend am Abgrund
> Im Hintergrund spielt Beat-Musik. Um einen Schaukelstuhl herum sitzt eine
> Gruppe Jugendlicher und verhandelt den Fall Tartiner.
Als Jugendlicher näherte ich mich eines Winternachmittags dem Eingang eines
großen alten Gebäudes. Außer mir waren zahlreiche weitere junge Menschen
dorthin unterwegs. Alle waren in gehobener Stimmung. Unweit des Eingangs
bewarfen etwa ein Dutzend von ihnen einander lachend und schreiend mit
Schneebällen. Von drinnen war die Musik einer Beat-Gruppe zu hören.
Umgeben von erwartungsfrohen Gleichaltrigen kam ich in dem geheizten
Veranstaltungssaal an. Die meisten hängten nach dem Bezahlen des
Eintrittsgelds ihre Mäntel und Jacken an der Garderobe auf und eilten zur
Tanzfläche. Mein Ziel war der Bereich mit den Sitzgelegenheiten, wo schon
einige Jugendliche beisammensaßen und schwatzten. Zwei der Jungen waren
Bekannte von mir. Ich setzte mich auf einen freien Sessel und hörte zu.
Thema der Unterhaltung war die Frage, was „damals mit Tartiner geschehen“
sein mochte.
Tartiner war einer der Anwesenden, ein junger Mann, der offenbar aus „guten
Verhältnissen“ stammte. Über das mit ihm Geschehene kursierten Gerüchte.
Einer der beiden, die ich kannte, sah Tartiner grinsend an, beugte sich auf
seinem Schaukelstuhl nach vorn und ließ sich dann gegen die Lehne
zurückfallen. Das wiederholte er mehrmals. Jemand sagte etwas, doch ich
konnte es nicht verstehen, weil ein neben mir sitzendes Mädchen laut über
den Schaukelnden lachte.
Mit ernster Miene widersprach Tartiner: „So war das nicht.“ – „Wie dann…
forschte der Schaukler. Tartiner gab zur Antwort: „Sie waren getuscht.
Figuren ohne Hals.“ – „Aha“, ließ sich der hören, dessen Worte im Lac…
des Mädchens untergegangen waren, „das heißt also, sie waren …“
Lautstarker Applaus auf der Tanzfläche ließ mich wieder kein Wort
verstehen. Als es endlich ruhiger wurde, sprach Tartiner von „Zellen“. Mir
war nicht klar, welcherart Zellen gemeint waren, solche im Sinne von
„kleinste lebendige Einheit und Grundbaustein aller Lebewesen“ oder
„kleiner, schmuckloser Raum, dessen Einrichtung auf das Notwendigste
beschränkt ist“. Ich mochte mich aber nicht unnötig exponieren, indem ich
nachfragte. Das Mädchen neben mir wollte wissen: „Wie sahen die denn aus?“
– „Schlimm“, antwortete Tartiner leise. Ihm war anzusehen, dass er unter
der Erinnerung litt.
Niemand sprach mehr etwas, sogar die Musik hörte auf. Im Saal war es
totenstill. Umherblickend stellte ich fest, dass mich alle Anwesenden
anstarrten. „Was ist?“, wollte ich rufen, doch es kam nur Mondlicht heraus.
Weil ich es nicht länger ertrug, verließ ich fluchtartig meinen Platz.
Ich holte meinen Mantel und wollte hinauslaufen. Die Frau an der Garderobe
rief mir nach: „Wo willst du denn übernachten?“ – „In Tartiners
Sterbezimmer.“ – „Wie gelingt es dir nur, da zu schlafen?“, wunderte si…
die Frau. „Und wovon willst du dich ernähren?“ – „Meine lebenden Freun…
bringen mir Schlafmittel und Kuchen.“ Dann ging ich. Draußen schneite es.
2 Feb 2022
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Groteske
Jugend
Geheimnis
Gastronomie
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