| # taz.de -- Die Wahrheit: Fehler am Steuer | |
| > Unterwegs in einem Auto zu entdecken, dass nicht eine alte Freundin, | |
| > sondern eine groteske Chimäre den Wagen steuert, kann schon erschrecken. | |
| Als ich die Beifahrertür des Wagens öffnete, um einzusteigen, saß plötzlich | |
| nicht meine alte Freundin Venus Klarwasser, sondern eine alptraumhafte | |
| Chimäre am Steuer. Ich kam nicht dazu, mein Erstaunen darüber zum Ausdruck | |
| zubringen, weil das abscheuliche Wesen augenblicklich auf unverhohlen | |
| feindselige Weise von mir verlangte, endlich einzusteigen. | |
| Solchermaßen verwirrt, nahm ich, anstatt die Flucht zu ergreifen, neben der | |
| Kreatur Platz. Sie behauptete, der Motor werde nicht wieder anspringen, | |
| nachdem er sich nun schon länger als eine Viertelstunde im Ruhezustand | |
| befinde. Dann warf sie mir hasserfüllt vor: „Ihretwegen bin ich fern von | |
| Heim und Familie in der Nacht unterwegs, um Sie in dieser gottverlassenen | |
| Gegend herumzufahren, und dafür behandeln Sie mich wie den letzten Dreck! | |
| In der Kälte muss ich hier auf Sie warten, und jetzt ist auch noch der | |
| Motor meines Wagens ruiniert!“ | |
| Sie muss eine Sinnestäuschung sein, dachte ich. Doch dann wurde meine | |
| Aufmerksamkeit auf anderes gelenkt. Vor meinen Füßen, am Ende des Fußraums, | |
| entstand eine Öffnung, aus der Licht auf meine Schuhe und Hosenbeine fiel. | |
| Ich verdrehte meinen Körper, um hinunterschauen zu können. In der Öffnung | |
| tauchte ein Kopf auf. Das Gesicht war nicht zu erkennen, da die Lichtquelle | |
| sich dahinter befand. Eine angenehme weibliche Stimme sprach mich mit | |
| meinem Namen an. Ich beugte mich hinunter, so weit ich konnte, und grüßte | |
| freundlich. Die Frauenstimme sagte: „Entschuldigung! Es ist ein Fehler | |
| aufgetreten. Bitte folgen Sie mir.“ | |
| „Wohin?“, entgegnete ich. „In den Motorraum? Wie soll das gehen?“ – �… | |
| werden sich schon hier herunterbemühen müssen.“ – „Wer sind Sie?“ | |
| Darauf erhielt ich keine Antwort. Die Chimäre am Steuer schien indessen von | |
| all dem nichts zu bemerken, sondern setzte ihre Anklagerede unentwegt fort. | |
| Dabei nahm sie ebenso wenig Notiz von meinem Tun wie ich von ihren Worten. | |
| Um zu befolgen, wozu mich die sympathische Frauenstimme aufgefordert hatte, | |
| musste ich mit dem Kopf voran in den Fußraum kriechen. Dazu war es nötig, | |
| dass ich vorher die Beifahrertür öffnete, ausstieg, den Sitz so weit wie | |
| möglich zurückschob und mich dann in die Höhlung zwängte. | |
| Die im Fußraum entstandene Öffnung war von mildem Licht erfüllt. Ich | |
| streckte den Kopf hinein. Vor mir sah ich den unteren Teil eines | |
| Beifahrersitzes, der aussah wie der hinter mir. Langsam kroch ich immer | |
| weiter in das Loch und somit in den Fußraum eines anderen PKW. Bald war ich | |
| in der Lage zu erkennen, dass es der exakt gleiche Wagen war wie derjenige, | |
| aus dem ich soeben kam. Doch am Steuer saß hier meine alte Freundin Venus | |
| Klarwasser. Unter mühseligen Verrenkungen schaffte ich es auf den | |
| Beifahrersitz. Alles sprach dafür, dass die Fahrerin von dem aufgetretenen | |
| Fehler so wenig mitbekommen hatte wie davon, auf welchem Wege ich in den | |
| Wagen gelangt war. | |
| 10 Mar 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
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