# taz.de -- Die Wahrheit: Botaniker auf dem Land | |
> Was geschieht, wenn die bekannten Verfahrensweisen in hoffnungslosen | |
> Situationen nicht mehr angewandt werden können? Eine Groteske nimmt ihren | |
> Lauf. | |
Bild: Es grünt so grün: Bromeliengewächshaus im Botanischen Garten Dahlem | |
Die Stadt war völlig von ihnen abgefallen, als die Botanikerin Boehm und | |
ihr persönlicher Assistent Eich nach einer Tagesreise endlich auf dem Land | |
ankamen. Eich wollte sich sogleich zur Nachtruhe begeben, doch Boehm | |
forderte ihn auf: „Kommen Sie, sehen wir uns den natürlichen Schmutz an.“ | |
Bei ihrem stillen Gang über Land fanden die beiden nur spärliche Vegetation | |
und Steine vor, hier und dort ein paar Sträucher, sonst nichts. Natürlichen | |
Schmutz schien es, zumindest auf den ersten Blick, nicht oder nicht mehr zu | |
geben. Eich, der für Vorbereitung und Durchführung der Reise verantwortlich | |
war, begann Hoffnungslosigkeit zu empfinden. In Gedanken ging er hastig | |
alle zwei ihm bekannten Verfahrensweisen durch, die in hoffnungslosen | |
Situationen angewandt werden konnten. Manchmal half angeblich Abtupfen des | |
Himmels mit hochprozentigem Alkohol, doch stand Letzterer jetzt nicht zur | |
Verfügung. Ebenso wenig kam das zweite Verfahren infrage, denn Eich kam in | |
seiner momentanen Bedrängnis nicht darauf, worin es bestand. | |
Zwanghaft begann er deshalb, mutwillig daherzureden: „Im Louvre können Sie | |
nachts bequem Großspenden aus Holz annehmen.“ Als Botanikerin ging Boehm | |
aber nicht darauf ein, und weil Eich sich wie ein Trottel vorkam, wollte er | |
seinen Ausfall am liebsten ungeschehen machen. Deshalb sagte er: „Es wäre | |
übertrieben zu behaupten, im Louvre könne man nachts bequem Großspenden aus | |
Holz annehmen.“ | |
Boehm, die gar nicht zuhörte, sah erstaunt an sich hinunter. Schließlich | |
sagte sie: „Ich kann mich nicht erinnern, heute diese Schuhe angezogen oder | |
überhaupt jemals getragen zu haben.“ Begeistert, nun ein Gesprächsthema zu | |
haben, doch absichtlich nicht in die Hände klatschend, erwiderte Eich: | |
„Wenn man sich an alle Kleidungsstücke erinnern wollte, die man je getragen | |
hat, käme man zu nichts im Leben.“ | |
Diese Worte vermochten bei Boehm eine Erinnerung zu wecken. „Ich weiß es | |
noch“, sagte sie versonnen, „wir lachten in unserer Kleidung. Zu ebener | |
Erde standen wir im Freien vor dem Louvre. Soeben hatten wir eine namhafte | |
Holzspende abgegeben und lachten befreit. Wir lachten gewissermaßen aus | |
unserer Kleidung heraus, die uns fast ganz umhüllte, um uns eine Heimstätte | |
zu gewähren in der Welt.“ | |
„Es ist gut zu lachen“, sprach Eich affirmativ, „doch es ist auch gut, Ho… | |
gespendet zu haben.“ Leider war Boehm nicht daran interessiert, weiter über | |
dieses Thema zu sprechen. „Kommen Sie“, sagte sie abermals, „wir sind hie… | |
um uns den natürlichen Schmutz anzusehen. Lassen Sie uns mit offenen Augen | |
über Land gehen.“ Ermüdendes Schweigen folgte, während unablässig über L… | |
gegangen und der natürliche Schmutz gesucht wurde. Allmählich dunkelte es. | |
Eich wies Boehm diskret darauf hin: „Am Abendhimmel sind Abendwolken.“ | |
„Ja“, bestätigte Boehm, „es wird Abend, und die Müdigkeit erwacht.“ | |
18 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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