| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Arbeitsplatzverweigerung | |
| > Ein ehemaliger Beschäftigter, der die Firma schleichend ruiniert, ist | |
| > heikel. Unerledigtes bleibt hier unerledigt, die Dinge nehmen ihren Lauf | |
| > … | |
| Ich weiß sehr wohl, wie abwegig es klingt, aber ich habe den Eindruck, | |
| wieder dieselbe Stelle bei derselben Firma innezuhaben wie vor vielen | |
| Jahren. Was ich hingegen nicht weiß, ist, wie lange es schon so geht und | |
| wie es dazu kommen konnte. | |
| Erst vor ein paar Tagen bin ich darauf aufmerksam geworden. Seither glaube | |
| ich, Räumlichkeiten, Kollegen und Arbeit von früher her zu kennen. | |
| Verglichen mit meiner Erinnerung an damals sieht aber alles irgendwie | |
| fremd, ja, geradezu falsch aus. Wahrscheinlich habe ich den Schwindel | |
| deshalb so spät durchschaut. | |
| Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen jetzt andere Namen, scheinen | |
| sonst jedoch – genau betrachtet – mit den Menschen identisch zu sein, die | |
| sie in der fernen Vergangenheit waren. An meinem wegen der privaten | |
| Dekorationsgegenstände, mit denen er geschmückt ist, auf mich vertraut | |
| wirkenden Arbeitsplatz liegt noch sehr viel Unerledigtes aus meiner | |
| früheren Zeit bei der Firma. Es ist ein zum Verrücktwerden | |
| furchteinflößendes Papierzeug, von dem ich überhaupt nicht ahne, was ich | |
| damit anfangen soll. | |
| ## Eine atavistische Situation | |
| Die Erkenntnis, nach wer weiß wie vielen Jahren in eine solche atavistische | |
| Situation zurückgefallen zu sein, macht mich unfähig, auch nur in Betracht | |
| zu ziehen, diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Erstaunlicherweise wird meine | |
| Verweigerung von allen stillschweigend hingenommen. Auch mein immer | |
| häufigeres und immer länger dauerndes Verlassen des Arbeitsplatzes bleibt | |
| gänzlich folgenlos. Es werden nicht einmal Bemerkungen gemacht, wenn ich | |
| halbe oder ganze Tage fernbleibe. Niemand scheint die Macht zu besitzen, | |
| von mir die Erledigung der sich auf meinem Schreibtisch, in Fächern und | |
| Schubladen türmenden Aufträge zu verlangen. | |
| Vorgestern hat mich der Chef in sein Büro bestellt, um ein Gespräch mit mir | |
| zu führen. Ernst, aber nicht im geringsten vorwurfsvoll, sagte er, meine | |
| Haltung, meine profunde Überzeugung, alles längst hinter mir gelassen zu | |
| haben, raube der Firma das Selbstvertrauen und letztlich die Fähigkeit zum | |
| Fortbestehen. Das deshalb zunehmend in Auflösung begriffene Unternehmen | |
| werde sogar schon in einer offiziellen Liste mit dem Titel „Die, welche es | |
| in diesem Jahr nicht schaffen“ geführt. | |
| Um eine konstruktive Lösung bemüht, fuhr er fort: „Vielleicht brauchen Sie | |
| etwas, woran Sie glauben können, um sich stärker für unsere Firma zu | |
| engagieren? Was könnte Ihnen dabei helfen? Zum Beispiel erzeugen | |
| Implausibilitäten – wie etwa in religiösen Systemen – stärkere affektive | |
| Beteiligung.“ Ich ging nicht darauf ein, sondern saß nur schweigend da, bis | |
| der Chef resignierte. | |
| Heute wurde bekanntgegeben, dass die Firma am Ende ist. Schon morgen soll | |
| die Abschiedsfeier stattfinden. Dann will ich eine | |
| Buttercreme-Schokolade-Torte und eine Flasche Wein unauffällig | |
| beiseiteschaffen, um sie mit nach Hause zu nehmen. Wer sollte mich daran | |
| hindern? | |
| 3 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
| ## TAGS | |
| Büro | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Arbeit | |
| Traum | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Groteske | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Gastronomie | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Wahrheit: Die Personenverfolgung | |
| Wenn es so ist, dass Gegenstände verschwinden, also auch Menschen, und das | |
| vor den Augen des Betrachters, und andere erscheinen von selbst: was dann? | |
| Die Wahrheit: Klarstellung über eine Frau | |
| Ein Prüfungsbericht über eine geheimnisvolle Person wird von fragwürdigen | |
| Prüfern erstellt, deren Oberbekleidung Obskures verbirgt. | |
| Die Wahrheit: Die Kästen am Hauptbahnhof | |
| Wer mit dem Zug fahren will, gerät an ein obskures Hindernis. Es wird von | |
| einer alten, ärmlich gekleideten Frau bewacht. | |
| Die Wahrheit: Busfahrt des Grauens | |
| Im Nirgendwo geschieht das Unausdenkliche: Mit einem Linienbus soll ein | |
| Vortragsreisender an einen unbekannten Ort am Stadtrand gefahren werden … | |
| Die Wahrheit: Die Unmöglichkeit zu frühstücken | |
| Wenn ein kandelabertragender Mann dem Hotelgast durch hinterhältiges | |
| Klopfen das Morgenmahl vergällt, hilft nur noch die Flucht. | |
| Die Wahrheit: Wunder Tür | |
| Zu den mechanischen Mirakeln, die sich dem menschlichen Geist ebenso | |
| verschließen wie öffnen, gehört zweifelsohne die Tür. |