| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Kästen am Hauptbahnhof | |
| > Wer mit dem Zug fahren will, gerät an ein obskures Hindernis. Es wird von | |
| > einer alten, ärmlich gekleideten Frau bewacht. | |
| Als ich in der Nacht wieder den Hauptbahnhof suchte, kam ich nach langem | |
| Irren durch Straßen, Treppenhäuser und unterirdische Gänge schließlich zu | |
| einem schlecht beleuchteten Platz, auf dem einige Holzkästen standen. Jeder | |
| von ihnen war etwa zwei Meter mal einen Meter fünfzig im Quadrat groß und | |
| wies lediglich eine Tür, doch kein Fenster auf. | |
| Es schien mir möglich, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand, denn ein | |
| Gerücht besagte, in der Nähe des Hauptbahnhofs seien die überall im Land | |
| anzutreffenden Holzkästen, in welchen angeblich etwas Unbekanntes | |
| heranwuchs, größer sowie von anderer Bauart als üblich. Im Hintergrund | |
| glaubte ich außerdem Gleise zu erkennen. | |
| Um mir Gewissheit zu verschaffen, klopfte ich an die Tür des nächsten | |
| Kastens. Sofort wurde geöffnet und eine ältere, ärmlich gekleidete Frau | |
| schaute heraus. Auf meine Frage antwortete sie mit rauer Stimme: „Es haben | |
| schon viele den Hauptbahnhof gesucht und dabei vergessen, was sie suchten.“ | |
| „Auf mich trifft das nicht zu“, entgegnete ich. „Ich glaube sogar, schon | |
| die Gleise zu sehen.“ – „Das ist erst der äußerste Gleisbezirk. Bis zum | |
| Bahnhof selbst ist es noch weit.“ – „Noch weit?“, rief ich erschrocken. | |
| „Mein Zug fährt in zehn Minuten!“ – „Beruhigen Sie sich“, sagte die … | |
| „Selbst wenn Sie diesen Zug noch erreichen, wären Sie eines Nachts doch | |
| wieder hier. Ich glaube, in Ihrem linken Ohr ist etwas, das diese Störung | |
| verursacht. Sind Ihnen keine entsprechenden Geräusche aufgefallen?“ | |
| Was sie sagte, erstaunte mich. Tatsächlich hatte ich schon öfter Geräusche | |
| registriert, die nahelegten, ein Insekt, das sich nach Belieben in einen | |
| Flüssigkeitstropfen verwandeln konnte, bewohne mein linkes Innenohr. | |
| „Sind Sie Ohrenärztin?“, fragte ich. Die Frau verneinte und sagte dann | |
| etwas, das ich wegen der Geräusche in meinem Ohr nicht verstehen konnte. | |
| Ich machte mir Gedanken darüber, ob sie wirklich in diesem Kasten wohnte, | |
| dessen Grundfläche ihr kaum gestattete, sich ausgestreckt hinzulegen. Es | |
| musste ein geräumigerer unterirdischer Bereich vorhanden sein. Wie es sich | |
| unter solchen Umständen wohl lebte? | |
| In meinem linken Ohr zischte es. Über die Kleidung der Frau lief eine | |
| elektrische Welle, die ein pulsierendes, aber flüchtiges Art-déco-Muster | |
| erzeugte. Offenbar wollte die Frau nicht, dass ich es sah, denn sie schloss | |
| schnell die Tür vor mir. | |
| Ich ging weiter in Richtung der Gleise. Bis zum Hauptbahnhof war es noch | |
| weit. Überall im Land wuchs in zahllosen Holzkästen etwas heran, und | |
| niemand wusste, was es war. Die Menschen befürchteten, nachzusehen brächte | |
| Unglück. Deshalb wurden die Kästen ignoriert und ihre Erwähnung untersagt. | |
| Man durfte lediglich über die Schlafhütten reden, in denen sich große | |
| geierartige Vögel nebeneinander auf den Boden legten. | |
| Ein paar Nächte später stand ich dann wieder vor dem Kasten der ärmlich | |
| gekleideten Frau. | |
| 6 Sep 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
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