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# taz.de -- Die Wahrheit: Das Fehlen der Schrift
> Einem Schriftsteller geht das Wichtigste verloren. Und er weicht auf die
> Musik aus. Doch auch ein Doppelgänger kann das Verschwindende nicht
> finden.
Doktor Lateiner schrieb Streichquartette, um nicht zu verzweifeln, wenn die
Arbeit an seinem surrealistischen Roman – wie so oft – darniederlag. Die
fertigen Partituren schickte er dem von einem seiner Patienten
heautoskopisch halluzinierten Doppelgänger. Mit diesem hatte sich Doktor
Lateiner im Laufe der Behandlung angefreundet. Gleich nach dem Frühstück
besuchte er die auch für ihn, den Psychiater, überzeugend reale Person,
deren literarische Expertise er schätzte.
Sie lebte bei einem freistehenden Wasserhahn am Güterbahnhof und war
entweder weiblichen oder männlichen Geschlechts. Pro Sekunde erneuerten
sich wie bei einem Menschen zwischen zehn und fünfzig Millionen Zellen in
ihrem Körper. Tags zuvor hatte sie ein neues Streichquartett von Doktor
Lateiner mit der Post bekommen. „Am heutigen Morgen war es mir die einzige
Hilfe“, versicherte sie dem Komponisten, um ihm eine Freude zu machen.
„Es muss mein achtes sein“, vermutete Doktor Lateiner. Er hatte längst den
Überblick verloren. „Diesmal war der linke Teil der Partitur kleiner“,
kommentierte die Doppelgänger-Person, indem sie auf die unverkennbare
Symmetrieschwäche Doktor Lateiners anspielte – schadenbedingt war
üblicherweise der rechte Teil größer. Doktor Lateiner klagte: „Es ist ein
zerebraler Notstand. Als hätte ich mich bei meinen Patienten infiziert.“
Seine Fingerspitzen rochen nach Schwefel.
Die Doppelgänger-Person hatte ihre eigenen Probleme. Als Mensch leben zu
müssen, empfand sie als Dimensionsschande. Trotzdem bemühte sie sich um
Anteilnahme. „Wie geht es mit Ihrem Roman voran?“, fragte sie Doktor
Lateiner. Sie ahnte, dass er Schwierigkeiten damit hatte, denn sonst wäre
kein neues Streichquartett mit der Post gekommen. „Es sind schon mehrere –
inzwischen meist patinierte – Schriftzüge sichtbar“, antwortete der
Psychiater, „sehr gewissenhaft gearbeitet. Weitere Schriftzeichen stellen
sich zurzeit jedoch nicht ein. Als stürben sie an der Disziplin der
Sachverhaltschilderung.“
„Buchstaben lassen sich nirgends mehr finden“, versuchte die
Dopppelgänger-Person ihn zu trösten, „das hört man immer häufiger. Manche
mögen das begrüßen, andererseits wird die Schrift aber vermisst.“
Doktor Lateiner nahm diese Worte zum Anlass für eine tiefergehende
Darstellung des Problems: „Wo die Schrift fehlt oder unsicher erscheint,
versagt bald auch das Licht. Entweder fehlen dann Teile der Schriftzüge
oder es werden welche vorgetäuscht. Dabei bleibt unklar, ob nicht überhaupt
Schatten die Schriftzüge vorspiegeln. Wo Letztere lesbar sind, entsprechen
sie sichtbaren Schriftteilen, können jedoch nicht entziffert werden. Der
Glanz des möglicherweise einfallenden Lichts hilft nicht weiter. Es hat den
Anschein, dass die Schriftzeichen erst geraume Zeit nach dem Vergehen des
Lichtglanzes entstehen.“
Damit war alles gesagt.
16 Nov 2022
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
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Schriftsteller
Doppelgänger
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