# taz.de -- Die Wahrheit: Das Zeichen im Keller | |
> Ganz unten, im tiefsten Untergeschoss des Wohngebäudes, tut sich | |
> Unheimliches. Für das es keinerlei Erklärungen gibt. | |
Wieder will jemand im Keller des riesigen alten Gebäudes, in dem wir ein | |
paar trockene, nicht zu kalte Räume bewohnen, etwas Außergewöhnliches | |
entdeckt haben. Diesmal ist es angeblich ein großes, äußerst beunruhigendes | |
Zeichen an der Wand. | |
Was sind das nur für Menschen, die in unserem Keller dauernd solche | |
Entdeckungen machen! Wir selbst haben nie dergleichen wahrgenommen und | |
können es auch jetzt nicht. Erst nachdem man uns eindringlich darauf | |
aufmerksam gemacht und lange genug vor der betreffenden Wand | |
herumgefuchtelt hat, glauben auch wir allmählich etwas zu erahnen, das vage | |
den Behauptungen der eifrigen Fremden entspricht. Die sind damit keineswegs | |
zufrieden, sondern drängen uns, etwas zu unternehmen. Wir wissen aber | |
nicht, was überhaupt unternommen werden könnte. | |
Eine Ärztin wird gerufen. Sie betrachtet intensiv die Stelle an der Wand | |
und kann anscheinend sehen, wovon die Fremden reden. Vermutlich in der | |
Absicht, das so beunruhigende Zeichen einzuordnen, fragt sie, ob bei den im | |
Haus Wohnenden, also bei uns, eine bestimmte politische Ausrichtung | |
vorherrsche. „Im Gegenteil!“, wird wahrheitsgemäß erwidert. Ich kann nicht | |
verstehen, wie die Frau auf eine derartige Frage gekommen ist, schweige | |
jedoch dazu. | |
Weitere Erkundigungen beliebt die Ärztin nicht einzuziehen, sondern ermahnt | |
uns vielmehr: „Denken Sie immer daran: Der Keller ist ein äußerst | |
gefährlicher Ort, besonders nachts, wenn er unkontrollierbar in die Tiefe | |
und die Weite wächst. Meiden Sie ihn dann nach Möglichkeit! Verhängnisvolle | |
Räume und Abstiege entstehen in der Nacht. Wie leicht verläuft man sich und | |
findet nicht mehr hinaus! Wer sich in diese verhängnisvolle Sphäre wagt, | |
wird unweigerlich von bösartigen Wesen angegriffen! Als Medizinerin lege | |
ich dringend nahe, dann sofort furcht- und rücksichtslos auf die Unholde | |
einzuschlagen, bis sie vergehen. Sonst nisten sie sich wie Viren in den | |
Gedanken der von ihnen Überfallenen ein.“ | |
Wir stehen stumm dabei und lauschen ihren Worten. Zum Schluss gibt die | |
Ärztin uns den Rat: „Hören Sie zur prophylaktischen Stärkung Ihres | |
geistigen Immunsystems viele Fugen, am besten von Johann Sebastian Bach. | |
Doch auch die von Mozart sind wirksam.“ | |
„Ändert sich denn durch das Zeichen an der Kellerwand etwas an unserem | |
Leben?“, will ich von der Ärztin wissen. Nach Art eines Zollbeamten reicht | |
sie mir etwas, das aussieht wie eine runde gläserne Kuchenplatte, die, als | |
ich sie ohne zu überlegen in Empfang nehme, quadratisch wird. Erschrocken | |
werfe ich mir vor, den Gegenstand nicht zurückgewiesen zu haben, denn ich | |
befürchte, nun in neue Schwierigkeiten geraten zu sein. Weniger an mich als | |
an alle gerichtet, antwortet die Ärztin: „Manchmal scheint ein neuer Anfang | |
möglich.“ | |
Die Fremden, die das Ganze ausgelöst haben, sind fortgegangen. Auch wir | |
begeben uns in unsere Wohnräume zurück. | |
9 Feb 2023 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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