# taz.de -- Die Wahrheit: In der Abfahrtstation | |
> Warten im Wartehäuschen. Gemeinsam mit drei oder vier älteren Herren. Und | |
> einer geheimnisvollen Frau, die als einzige helfen kann … | |
Im Warteraum einer der damals gebräuchlichen Abfahrtstationen, die nicht | |
mehr als kleine, kistenartige Hütten waren, saß ich gemeinsam mit drei oder | |
vier weiteren Personen auf einer hölzernen Bank. Die Ungenauigkeit der | |
Personenanzahl wurde hauptsächlich durch die sehr mangelhafte Beleuchtung | |
hervorgerufen. Eine weitere Ursache mochte der Umstand sein, dass sich in | |
dieser Atmosphäre Zahlen nicht lange hielten. So viel ich erkennen konnte, | |
waren die anderen drei oder vier Wartenden ältere Herren. „Die Toten müssen | |
uns helfen! Nur sie können es!“, rief einer von ihnen. | |
Nach einer endlos lang scheinenden Zeit glaubte ich zu sehen, am | |
entgegengesetzten Ende der Bank säße eine junge weibliche Person. Ich | |
wunderte mich, dass mir das in diesem kleinen Raum nicht früher aufgefallen | |
war. Die älteren Herren schienen keine Notiz von ihr zu nehmen, mir aber | |
kam die höchstens Dreißigjährige von irgendwo her bekannt vor. So diskret | |
wie möglich schielte ich zu ihr hinüber und versuchte, mich zu erinnern, wo | |
ich ihr schon begegnet war. Zu guter Letzt erkannte ich in ihr die | |
rätselhafte Unbekannte, die mich am Morgen auf der Straße angesprochen | |
hatte. Wie unter Zwang hatte sie frenetisch auf mich eingeredet. | |
An den wirren Inhalt ihrer von gequältem Lachen begleiteten Wortkaskaden | |
konnte ich mich nicht mehr erinnern. Mir war nur im Gedächtnis geblieben, | |
dass sie von einigem, das sie über mich ausschüttete, selbst peinlich | |
berührt gewesen zu sein schien. „Was für schmutzige Vorstellungen!“, hatte | |
sie ungläubig ausgerufen, obwohl es definitiv keine Obszönitäten gewesen | |
waren. Dann war sie einfach in einer der Hütten beim Bahnhof verschwunden. | |
Der mir nächstsitzende ältere Herr beugte sich herüber und flüsterte in | |
mein Ohr: „Vielleicht kann uns diese Frau helfen.“ Ich starrte ihn | |
sprachlos an. So laut, dass es alle hören mussten, forderte er mich dann | |
auf: „Gehen Sie zu ihr! Bitten Sie sie, uns zu helfen!“ Ich schüttelte | |
heftig den Kopf, doch der Mann insistierte dermaßen, dass ich schließlich | |
nachgab. Ohne auch nur entfernt zu ahnen, was ich der Frau sagen sollte, | |
schickte ich mich wahrhaftig an, zu ihr zu gehen. | |
Da fiel mir auf, dass ich alte braune Lederhandschuhe trug, die ich von | |
meinem Vater geerbt hatte. Weil sie sehr abgenutzt aussahen, wollte ich sie | |
schnell abstreifen. Doch sie waren furchtbar eng, schienen aus mehreren | |
Schichten zu bestehen und waren kaum von den Händen herunterzubekommen. | |
Während ich verzweifelt zerrte, hörte ich die Frau sagen, es sei soweit und | |
sie müsse nun gehen. | |
„Beeilen Sie sich!“, zischte der alte Mann neben mir zornig. Ich | |
befürchtete, die Frau nicht mehr rechtzeitig zu erreichen, und bemühte mich | |
wie ein Wahnsinniger, die Handschuhe loszuwerden. Bei einem gelang es mir | |
sogar, aber den Kampf gegen den zweiten verlor ich. Völlig erschöpft hob | |
ich den Blick und gewahrte, dass bereits alle fort waren. | |
29 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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