| # taz.de -- Historiker über liberales Judentum: „Wandel gab es im Judentum i… | |
| > Es ist die stärkere, aber weniger sichtbare Strömung: Der Historiker | |
| > Hartmut Bomhoff hat ein Buch über 250 Jahre liberales Judentum verfasst. | |
| Bild: Zukunft unklar: Relikt des Hamburger Israelitischen Tempels von 1817, ein… | |
| taz: Herr Bomhoff, warum erscheint das Buch, dessen Mitherausgeber Sie | |
| sind, gerade jetzt? | |
| Hartmut Bomhoff: Es ist ein Versuch, den Beitrag des liberalen Judentums zu | |
| 1.700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland zu zeigen. In den Medien ist | |
| die Orthodoxie sehr präsent, weil sie sich visuell unterscheidet. Aber | |
| eigentlich ist die Orthodoxie weltweit in der Minderheit, während das | |
| liberale Judentum die stärkste Strömung ist. | |
| Ist das Buch also eine Pioniertat? | |
| In der Tat wurde dazu – bis auf die „Geschichte der Reformbewegung“ eines | |
| Rabbis in den 1920er-Jahren – wenig geschrieben. Denn das Liberale war so | |
| selbstverständlich, dass es bis zur Shoah kein Thema war. Nach der Shoah | |
| haben sich die Proportionen verschoben, weil die Juden, die hier ansässig | |
| wurden, [1][displaced persons] aus Osteuropa waren, die meisten | |
| traditionell geprägt. Damit verschob sich die Hochburg des [2][liberalen | |
| Judentum]s von Berlin nach London, Nordamerika, auch nach Israel. | |
| Deshalb werden orthodoxe Richtungen auch hierzulande so stark wahrgenommen. | |
| Sie sind sehr lautstark und geben vielen Juden aus russischsprachigen | |
| Zuwandererfamilien, die in der einstigen Sowjetunion ohne Religion groß | |
| wurden, das Gefühl von Halt und vermeintlicher Authentizität. Die | |
| Orthodoxie gibt fertige Antworten auf alle Fragen, und es ist manchmal | |
| hilfreich, so ein Gerüst zu haben und nicht das eigene Gewissen befragen zu | |
| müssen. | |
| Wie kommen Sie und Ihre Mitherausgeber auf genau 250 Jahre liberales | |
| Judentum? | |
| Es gibt kein Gründungsdatum, aber zwei Wendepunkte: 1771 veröffentlichte | |
| der jüdische Aufklärer Mordechai Schnaber Levinson die Schrift „Über die | |
| Verbindung von Religion und Wissenschaft“. Er unterschied darin zwischen | |
| Wahrheit und Glauben – was damals unerhört war. Er schrieb auch, dass | |
| Reformen im jüdischen Religionsgesetz denkbar sind. Der zweite Bezugspunkt | |
| ist der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn. Er schrieb 1772 über den | |
| alten Brauch, jüdische Verstorbene so schnell wie möglich zu beerdigen und | |
| riet – im Sinne einer Akkulturation –, diese Praxis zu überdenken: Es sei | |
| ein Brauch, kein Gebot, und Bräuche seien zeitgebunden. Er unterschied als | |
| erster zwischen Schale und Kern des Judentums, zwischen Bräuchen und | |
| Wahrheit und ermöglichte so die spätere Reformbewegung. Auf die Reformer | |
| antworteten dann die „Altfrommen“, die die Orthodoxie begründeten. | |
| Stehen die erwähnten Bräuche in der Bibel? | |
| Nein. Sie sind vielleicht im Talmud fixiert – einer Auslegung biblischer | |
| Gesetze für den Alltag –, aber in allen [3][jüdischen Lebenswelten] | |
| unterschiedlich gedeutet worden. Deshalb ist es so wichtig zu begreifen, | |
| dass der Wandel stets konstitutiv für das Judentum war. Wenn wir auf 3.000 | |
| Jahre jüdische Geschichte zurückblicken – etwa auf die Folgen der | |
| Tempelzerstörung im Jahr 70 –, wird klar, dass es immer kultische und | |
| soziale Veränderungen gab. | |
| Gibt es junge Beispiele? | |
| Ich porträtiere im Buch die vor 25 Jahren gegründete Union progressiver | |
| Juden. Dazu zählt auch Hannovers mit 800 Mitgliedern größte liberale | |
| jüdische Gemeinde in Deutschland, aufgebaut von Ingenieurinnen, Ärztinnen, | |
| Künstlerinnen aus der früheren Sowjetunion: Sie wollten nicht hinnehmen, | |
| dass sie in der Synagoge weniger gleichberechtigt sein sollten als im | |
| Alltag. | |
| 13 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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