| # taz.de -- Mordender Krankenpfleger Högel: Ein paar Morde übersehen | |
| > Das Landgericht Oldenburg verhandelt gegen die ehemaligen Vorgesetzten | |
| > des Krankenpflegers Niels Högel, der eine Vielzahl von Patienten | |
| > ermordete. | |
| Bild: Großes Interesse, viel Platzbedarf: das Landgericht tagt in den Oldenbur… | |
| Oldenburg taz | Der Saal, in dem dieses Gerichtsverfahren stattfindet, | |
| heißt „Kleiner Festsaal“, er ist Teil der Weser-Ems-Hallen in Oldenburg. | |
| Aber das, was dort veranstaltet wird, ist kein Fest, sondern ein weiterer | |
| Strafprozess des dortigen Landgerichts, der sich mit Taten | |
| auseinanderzusetzen hat, die jede Vorstellungskraft sprengen. | |
| Wobei es nun die Aufgabe der 5. Großen Strafkammer unter dem Vorsitzenden | |
| Richter Sebastian Bührmann sein wird, tiefer in die Verästelungen jener | |
| Zeit vorzudringen, [1][als der Krankenpfleger Niels Högel von 2000 bis 2005 | |
| an Krankenhäusern in Oldenburg und Delmenhorst ihm anvertraute Patienten | |
| umbringen konnte]. Was wussten seine Vorgesetzten, was haben sie vielleicht | |
| vertuscht und warum? | |
| Högel war 2019 von derselben Kammer des Landgerichts im selben „Kleinen | |
| Festsaal[2][“ in 85 Fällen des Mordes für schuldig erklärt] worden. Der | |
| Pfleger hatte Menschen, denen er auf Intensivstationen der Krankenhäuser | |
| begegnete, Medikamente gespritzt, die sie nah an den Tod brachten. | |
| Gilurytmal heißt eine der Substanzen, Sotalex eine andere. Högel wollte | |
| Held werden, indem er die Patienten wiederbelebte. Das mag auch gelungen | |
| sein, oftmals aber gelang es nicht – so wurde er zum Mörder. | |
| Wie viele Menschen er tatsächlich umbrachte, wird nie bekannt werden. Auf | |
| der Suche nach Opfern wurden Leichen exhumiert.Die Zahl der auf Högel | |
| zurückzuführenden Toten stieg immer weiter an. Viele Verstorbene aber waren | |
| zur Bestattung verbrannt worden. In der Asche sind die tödlichen | |
| Medikamente nicht mehr nachweisbar. | |
| ## Der Vorwurf lautet Wegsehen | |
| Högel verbüßt seine lebenslange Haftstrafe in Oldenburg. In dieser | |
| Hauptverhandlung wird er als Zeuge sprechen. Denn [3][diesmal sind die | |
| Angeklagten seine ehemaligen Vorgesetzten]. | |
| Aus dem Klinikum Oldenburg sind es: D., damals Chef der kardiochirurgischen | |
| Intensivstation; N., der Leiter des Bereichs Pflege auf Station 211, Högels | |
| Vorgesetzter; M.-W., zur Zeit der Tätigkeit Högels Geschäftsführer des | |
| Klinikums; schließlich O., die Pflegedirektorin. Aus Delmenhorst sind es: | |
| W., die stellvertretende Pflege-Leiterin der Intensivstation, und Sch. und | |
| K., zwei Oberärzte. Der Angeklagte F., damals Pflegeleiter der | |
| Intensivstation, ist erkrankt und derzeit verhandlungsunfähig. | |
| Sieben Angeklagte also in diesem Verfahren. Sie haben 18 Strafverteidiger | |
| um sich herum sitzen, Aktenschränke türmen sich hinter der Kammer auf, | |
| Ergänzungsschöffen und Ersatzrichter sind zugegen, ebenso die | |
| Staatsanwaltschaft, Journalisten und Zuschauer. Wie schon im Prozess gegen | |
| Högel 2018/19 musste das Landgericht diesen Festsaal als „Nebenstelle“ | |
| anmieten. Sonst finden hier Abibälle und andere vergnügliche Begebenheiten | |
| statt. | |
| Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wiegen schwer. Die Anklage lautet auf | |
| Beihilfe zum Totschlag durch Unterlassen: Die Angeklagten hätten weitere | |
| Morde mit an „Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ verhindern können … | |
| wenn sie nicht weggesehen hätten. | |
| ## Angst vor Reputationsverlust? | |
| Im Fall der Anklage gegen die vier Beschäftigten des Klinikums Oldenburg | |
| geht es um Morde Högels an drei Patienten Ende November 2001. Bereits Ende | |
| Oktober sollen die Angeklagten „solche Taten“ Högels „für tatsächlich | |
| möglich gehalten haben“, sollen aber nicht eingeschritten sein und diese | |
| weiteren Taten „billigend in Kauf“ genommen haben. | |
| Anstatt Ermittlungsbehörden einzuschalten, hätten sich die Vorgesetzten mit | |
| den – wenn auch unerwünschten – Taten abgefunden, aus Sorge um die | |
| Reputation der Station 211 und des Klinikums. | |
| In Delmenhorst hätten die Angeklagten die Taten Högels spätestens ab dem 9. | |
| Mai 2005 für möglich gehalten, seien aber auch hier aus Sorge um die | |
| Reputation der Klinik, aus Angst, sich dem Vorwurf des Mobbings und | |
| falscher Verdächtigung auszusetzen, nicht eingeschritten. Es geht um vier | |
| Todesfälle. | |
| Die Verteidiger reagieren, als hätten sie sich abgesprochen: Sie alle | |
| verweisen auf die heilende, pflegende, rettende Tätigkeit ihrer Mandanten. | |
| Unvorstellbar sei es, den Tod ihrer Patienten zu billigen, um den Ruf einer | |
| Klinik zu schützen; der Vorwurf sei absurd. | |
| ## Beruf: Leben retten | |
| Ein Herzchirurg operiere doch nicht stundenlang unter Einsatz aller Kräfte, | |
| um hernach über die Taten eines mordenden Pflegers hinwegzusehen. Der | |
| Klinikchef M.-W. habe Högel nie bei der Arbeit erlebt, wie solle er von den | |
| Taten gewusst haben? Die Anklage sei „ungeheuerlich, widersinnig, | |
| wirklichkeitsfern“, sagt die Verteidigerin der Pflegedirektorin O. | |
| Die Aufgabe des Gerichts ist komplex. Da ist das Wissen um Högels Taten, | |
| Urteile gegen ihn sind rechtskräftig, dennoch stünden „die Uhren auf null�… | |
| sagt Richter Bührmann. Högels Taten müssen neu geprüft werden, weil nun | |
| mögliche Beteiligte vor Gericht stehen. | |
| Das Wort von Rückschaufehlern macht die Runde – das Gericht dürfe nicht | |
| heutiges Wissen über Högel auf die Zeit vor 20 Jahren projizieren, mahnen | |
| die Verteidiger. Es wird zu klären sein, was die Angeklagten damals | |
| erkennen konnten, was sie wussten und wie sie daraus folgernd handelten – | |
| oder nicht. 42 Verhandlungstage sind angesetzt. | |
| 17 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Zimmermann | |
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