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# taz.de -- Theaterstück über den Fall Niels Högel: Im Tiefsten erschüttert
> Das umstrittene Theaterstück „Überleben“ ist eine außerordentlich kluge
> Aufarbeitung der Patient*innenmorde in Delmenhorst und Oldenburg.
Bild: Bestechend klar arrangierte Texte: Szene aus dem Stück „Überleben“
Oldenburg taz | Theater ist ein Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung.
Das mag über die „Ahs“ und „Ohs“ opulenter Inszenierungen irgendwelcher
Klassiker mitunter in Vergessenheit geraten.
Dermaßen handgreiflich wie am vergangenen Wochenende in Oldenburg geraten
solche Interventionen allerdings nur höchst selten. Gestritten hatte man in
der Stadt schon lange vor dieser Premiere, eigentlich schon seit die
Göttinger Werkgruppe2 auch nur angekündigt hatte, mit „Überleben“ ein St…
über die massenhaften Patient*innenmorde an den Kliniken in Delmenhorst und
Oldenburg auf die Bühne des Staatstheaters zu bringen. Pietätlosigkeit
hatte man ihnen vorgeworfen, Ausverkauf und unangemessene Eile: so kurz,
bevor der große [1][Prozess gegen den Serienmörder und ehemaligen
Krankenpfleger Niels Högel] im vorvergangenen Herbst begonnen hatte.
Entsprechend hoch ist die Anspannung am Premierenabend vor und auf der
Bühne. Immer wieder wird geschluchzt, an Stellen mitunter, die gar nicht
sonderlich drastisch scheinen, sondern eher auf persönliche Erfahrungen
schließen lassen. Noch beim zweiten Gong diskutieren manche, ob sie nicht
doch wieder gehen sollten – vereinzelt tun sie’s.
Was auf der Bühne geschieht, ist leicht zu beschreiben, in seiner Wirkung
aber nur schwer zu erfassen. Julia Roesler inszeniert wortwörtliche
Gespräche mit größtenteils anonymisierten Zeug*innen: Angehörige,
Mitarbeiter*innen der Krankenhäuser, eine der Überlebenden. Die war nach
einem Unfall von „ihm“, wie der Täter hier meist nur genannt wird, in
Lebensgefahr versetzt und mit Erfolg wiederbelebt worden.
Und das ist für die Frage, um die es den Theatermacher*innen hier geht, ein
zentraler Fall. Weil der Täter sie nämlich wiederbelebt habe, heißt es im
Text des Opfers, sei man juristisch in diesem Fall vom Vorwurf des
versuchten Mordes zurückgetreten und spreche nur mehr von gefährlicher
Körperverletzung – „und das is’ leider verjährt“. Wiedergutmachung er…
sie darum nicht: keinen Schadensersatz, keine Entschuldigung, keine
Anerkennung ihres Leidens. Und das ist massiv.
Seit die Frau Jahre nach der Tat durch die Polizei erfährt, dass jemand
versucht hatte, sie zu ermorden, leidet sie unter nächtlichen
Panikattacken, Depressionen, Angst vor Rettungswagen – und eben dem Gefühl,
dass sich niemand dafür interessiert. Von solchen Fällen ist nach wie vor
wenig zu hören. Eindringlich lässt Ksch. Thomas Lichtenstein einen anderen
Zeugen sprechen, der am Telefon von der „Soko Kardio“ vom Mordverdacht
erfährt, dann eine Entwarnung erhält und noch später auf Nachfrage erfahren
muss, dass es wohl doch Mord war.
Um die Dimensionen jenseits der juristischen Aufarbeitung geht es also. Was
ist mit den Angehörigen? Wie lässt sich der Morde gedenken, wenn nicht mal
annähernd klar ist, wie viele es gab? Und das ist vielleicht am
wichtigsten: Warum ist außerhalb des Prozesses nichts passiert? Kein
Gedenkgottesdienst, keine Trauerfeier, keine offizielle Einladung an die
Betroffenen.
Stattdessen bleiben aus Sicht der Angehörigen eine Klinik, die aus
Korpsgeist und Angst um den Ruf systematisch geschwiegen habe, und eine
Staatsanwaltschaft in Oldenburg, die viel zu lange keinen Finger gerührt
habe, als die Fälle aus Delmenhorst längst auf dem Tisch lagen.
Ein Angehöriger vermutet: Wer in der Justiz Karriere machen möchte, der
legt sich nicht mit Unternehmen an, in die das Land Niedersachsen so stark
involviert ist. „Es sei denn, man möchte seine Karriere beenden.“
Schon um diese Stimmen der Übergangenen mit allen „Ähs“ und „Hmms“ zu
hören, lohnt sich der Gang ins Theater – auch für die Wütenden und jene,
die selbst keine Ahnung haben, wie damit jetzt umzugehen sei. „Vielleicht“,
heißt es einmal im Stück, „ist es ja sogar die Aufgabe des Theaters, solche
Prozesse zuzuspitzen.“ Es bleibt nur die Frage nach dem Wie, und die
verhandelt die Werkgruppe2 mit entwaffnender Offenheit.
Gleich zu Beginn suchen die Schauspieler*innen vor der Bühne das Gespräch
mit dem Publikum: „Wann haben Sie zum ersten Mal von einem Fall gehört?“
Aus der Presse? Waren sie beim Prozess? Was heißt eigentlich erinnern und
wie geht das? Auch später im Stück wird direkt mit den Zuschauer*innen
diskutiert, nach Ideen für eine Gedenkstätte gefragt und nach Einwänden.
Die Antworten kommen: den Täter zu entmenschlichen, verstelle gerade den
Blick auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, sagt etwa ein
Zuschauer. Ksch. Thomas Lichtenstein und Caroline Nagel fragen von der
Bühne nach, diskutieren und widersprechen auch. Als Menschen, wohlbemerkt,
nicht in ihren Rollen, sondern als langjährige Ensemblemitglieder und damit
eben auch Teil der oldenburgischen Stadtgesellschaft.
Einmal verschwinden sie alle miteinander im Inneren des Bühnenaufbaus und
diskutieren hinter verschlossener Tür. Es dringen nur Satzfetzen nach
draußen: dass die Intention des Stücks „völlig falsch suggeriert wurde in
der Öffentlichkeit“, oder die Verwunderung darüber, „wie vehement sich da
einige Personen geäußert haben, die gar nicht direkt betroffen sind“. Und
dass man einkalkulieren müsse, dafür „auf die Glocke zu kriegen“. Und noch
während dieser Selbstbeschau von oben, beginnen auch im Publikum Einzelne
leise miteinander zu streiten. Aufregend ist das – und wohl mehr, als
politisches Theater auch nur hoffen darf.
## Großes Fingerspitzengefühl
Und Theater ist es – das darf man bei aller Authentizität von Text und
Wiedergabe nicht vergessen. Die Texte sind arrangiert, folgen einer
bestechend klaren Linie vom öffentlichen Diskurs über verschiedene
Einzelpositionen zur Selbstreflexion und weiter zu Ansätzen einer Strategie
des weiteren Umgangs. Bis hin zum nächsten Einzelfall, der genau dort
wieder neue Schwierigkeiten aufzeigt.
Mit außerordentlichem Fingerspitzengefühl lassen die Schauspieler*innen
ihre Rollen zittern, verzweifeln und lachen. Im Zentrum der von Charlotte
Pistorius gestalteten Bühne steht ein drehbarer zweistöckiger Turm: ein
Treppenhaus ins Nirgendwo, das hier und da Einblicke gewährt, umso mehr
aber den Blick verstellt auf Abläufe im Inneren. Klug ist das, wie alles
hier, aber unaufdringlich – ohne dramaturgische Schaumschlägerei. Ein Stück
wie „Überleben“ ist eine Ensembleleistung oder es scheitert zwangsläufig.
Dass der fast zweistündige Balanceakt bei enormer Fallhöhe nicht ein
einziges Mal auch nur ins Straucheln kommt, ist eine Sensation. Auch wenn
einem das Wort hier schwer über die Finger geht. Man ist hier nicht gerne
begeistert, und ja, es tut auch weh, wie treffsicher das Theater die Bälle
zurück in die Öffentlichkeit spielt, die sich zuvor echauffiert hatte. Denn
es geht ja wirklich – wie einer im Text sagt – um das, „was die
Gesellschaft im Tiefsten erschüttern muss.“
3 Mar 2020
## LINKS
[1] /Schuldig-in-weiteren-85-Mordfaellen/!5598592
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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