# taz.de -- Psychiater über Prozess um Klinikmorde: Mörderischer Kostendruck | |
> Mindestens 89 Patienten hat Pfleger Niels Högel getötet. Nun standen | |
> seine Vorgesetzten vor Gericht. Psychiater Karl H. Beine über Fehler im | |
> System. | |
Bild: Immer in Eile, kaum ein offenes Gespräch mit den Vorgesetzten: Pflegekr�… | |
Oldenburg, Weser-Ems-Halle, gerade ist in einem der Festsäle dieses | |
Hallenkomplexes [1][ein wichtiger Strafprozess] zu Ende gegangen. Das | |
fünfte Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der [2][monströsen Mordserie | |
des Krankenpflegers Niels Högel], der zwischen 1999 und 2005 an den | |
Kliniken Oldenburg und Delmenhorst mindestens 89 Patient*innen ermordet | |
hat. In vier Prozessen wurde er mehrfach zu lebenslangen Freiheitsstrafen | |
verurteilt. | |
Vier Prozesse, weil durch neue Ermittlungen immer mehr Todesfälle bekannt | |
wurden, die mit Högel in Zusammenhang stehen könnten. Im Rahmen der | |
Ermittlungen der Soko „Kardio“ wurden seit 2014 auf Dutzenden Friedhöfen | |
134 Leichen exhumiert, um sie auf Rückstände der Medikamente zu | |
untersuchen, mit denen Högel gemordet hat. 130 weitere seiner potenziellen | |
Opfer waren feuerbestattet worden. Es wird ungeklärt bleiben, ob auch sie | |
durch Högels Manipulationen gestorben sind. | |
Nun waren seit Februar 2022 [3][sieben seiner ehemaligen Vorgesetzten in | |
Oldenburg und Delmenhorst angeklagt] – wegen Beihilfe zur Tötung durch | |
Unterlassen. Darunter der ehemalige Chefarzt der Herzchirurgie, die | |
Pflegedienstleiterin und der damalige Geschäftsführer des Klinikums | |
Oldenburg. Begleitet wurde der Prozess von 18 Strafverteidigern, | |
Strafkammer und Staatsanwaltschaft. Das Landgericht Oldenburg hatte extra | |
eine Außenstelle dafür eingerichtet, in dieser Halle, in der sonst Abibälle | |
stattfinden, Konzerte, ursprünglich vor allem Viehauktionen. | |
17 Jahre nach dem letzten Mord Högels im Klinikum Delmenhorst ist die | |
juristische Aufarbeitung dieser beispiellosen Mordserie mit diesem Prozess | |
beendet worden. Alle Angeklagten wurden freigesprochen, weil man ihnen | |
nicht nachweisen konnte, dass sie von Högels Taten wussten und dennoch | |
nichts dagegen unternahmen. Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen setzt | |
Vorsatz voraus, der konnte ihnen nicht nachgewiesen werden. | |
An den 29 Verhandlungstagen immer mit im Zuschauerraum: Karl H. Beine, bis | |
2021 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität | |
Witten/Herdecke. Beine erforscht Mordserien an Krankenhäusern. Nach dem | |
Freispruch sprechen wir in einem Hotel gegenüber der Weser-Ems-Halle über | |
mordende Pfleger, das beschädigte Gesundheitssystem in Deutschland und über | |
die Bedeutung dieses Prozesses. | |
taz am wochenende: Herr Beine, seit Februar haben wir uns immer wieder in | |
diesem Saal getroffen. Das Verfahren gegen Högels frühere Vorgesetzte ist | |
der Schlusspunkt für die Aufarbeitung der Mordserie. Wie wichtig war dieser | |
Prozess aus Ihrer Sicht? | |
Karl H. Beine: Es war das erste Mal, dass in Deutschland ein Prozess gegen | |
Verantwortliche geführt wurde, in deren Bereich solche Tötungsserien | |
geschehen sind. Ich halte es für fundamental wichtig, dass er stattgefunden | |
hat, weil damit klar geworden ist, dass persönliche Verantwortung für die | |
Sicherheit der Patienten auf keiner Hierarchieebene delegierbar ist. Das | |
fängt bei den unmittelbaren patientennahen Berufsgruppen an, Pflegern und | |
Ärzten, und endet – das sage ich mit Ausrufezeichen – bei der | |
Geschäftsführung. | |
Der Geschäftsführer ist in einem großen Krankenhaus aber doch weit weg vom | |
Pfleger am Patientenbett? | |
Könnte man denken, und das ist auch das, was die Verteidigung hier immer | |
wieder vermittelt hat: Was hat unser Mandant damit zu tun? Dabei hat dieser | |
Prozess deutlich gezeigt, wie nah der Mann am Geschehen dran war. | |
Vor dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft wurde im Gerichtssaal ein Telefonat | |
abgespielt, das während der Ermittlungen gegen Pflegestationsleiter Bernd | |
N. aufgezeichnet worden war. N., der als Vorgesetzter Högels angeklagt war, | |
hatte auf Geheiß des ebenfalls angeklagten Chefs der Herzchirurgie eine | |
Liste erstellt – mit den Namen der diensthabenden Pflegekräfte und den | |
Todesfällen bei Reanimationen. Högel führte jene Liste mit 18 Todesfällen | |
weit abgeschlagen an. | |
Seit 1999 hat er Patienten umgebracht, indem er ihnen heimlich nicht | |
indizierte Mittel verabreichte. Kalium, Gilurytmal, Sotalex, Xylocain und | |
Cordarex: Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen, deren Missbrauch tödlich | |
enden kann. Högel spritzte sie und verließ die Zimmer. Sobald die | |
Warnsignale der Geräte, an die die Patienten angeschlossen waren, Alarm | |
schlugen, versuchte er, die Menschen wiederzubeleben. Gelang das, wurde er | |
gelobt. Oft aber gelang es nicht. Das sind Högels Todesopfer. | |
In dem abgehörten Telefongespräch erzählt Pflegestationsleiter N. einem | |
Bekannten, wie er den Geschäftsführer des Klinikums auf Högel hingewiesen | |
und gesagt habe, jetzt müsse man doch die Polizei benachrichtigen. Der | |
Geschäftsführer habe das jedoch verhindert. „Jetzt reicht es aber“, habe | |
der gesagt, es gebe doch keine Beweise. [4][Der Geschäftsführer war also | |
mit den Vorgängen vertraut, hat aber nichts unternommen.] Deshalb war er | |
nun angeklagt. Die Staatsanwältin hat in ihrem Plädoyer für Freispruch | |
plädiert. Einige der Angeklagten hätten zwar Schuld auf sich geladen, die | |
sei aber nicht justiziabel. Fahrlässiges Handeln hätte juristisch bestraft | |
werden können, verjährt aber nach fünf Jahren. In diesem Prozess ging es um | |
Taten, die sich von 1999 bis 2005 erstreckten. | |
Allein das Zustandekommen dieses Prozesses hat klargemacht, dass | |
Patientensicherheit in Krankenhäusern absolute Priorität haben muss. Es | |
kann und darf nicht primär um die sprichwörtliche schwarze Null und den Ruf | |
des Hauses gehen, die qualifizierte Versorgung von Patienten muss im | |
Mittelpunkt stehen. Das muss auch demjenigen klar sein, der die Geschäfte | |
eines Krankenhauses führt. Auch deshalb dürfte dieser Prozess in vielen | |
Chefetagen deutscher Krankenhäuser mit gespanntem Interesse verfolgt worden | |
sein. | |
Sind Geschäftsführer von Krankenhäusern zu sehr auf die ökonomischen | |
Bilanzen bedacht? Und das Patientenwohl bleibt dabei auf der Strecke? Kann | |
man das so einfach sagen? | |
Krankenhäuser in Deutschland sind primär an der Erlössituation orientiert. | |
Der archimedische Punkt an einer Klinik ist die schwarze Null oder der | |
Gewinn. Alles andere richtet sich danach aus. Die Personalausstattung | |
kommt, was Krankenschwestern und -pfleger angeht, heute der gleich, wie sie | |
Mitte der 1990er Jahre gewesen ist, und das mit sehr viel mehr Patienten, | |
die bei kürzeren Liegezeiten durch die Krankenhäuser geschleust werden. | |
Weil ich ja aus dem Ruhrgebiet komme, sage ich immer: Wenn Sie in Essen aus | |
dem Zug steigen, 50 Jahre sind oder älter, humpeln Sie nicht, weil sich im | |
Umkreis von 25 Kilometern mindestens 60 Kliniken finden, die künstliche | |
Hüftgelenke einbauen wollen. Diese Kliniken konkurrieren alle miteinander | |
um den gleichen Patienten, weil eine solche Operation lukrativ ist. Die | |
einzelnen Krankenhäuser sind durch die Jünger des Marktes in diese | |
Situation gezwungen worden. Es geht nicht um eine wissenschaftlich basierte | |
oder um eine auf Krankheiten bezogene Planung. | |
Wie ist das im Zusammenhang mit den Taten Högels und seinen angeklagten | |
Vorgesetzten zu betrachten? | |
Pflegerinnen und Pfleger müssen ihre Arbeit unter hohem Zeitdruck | |
erledigen, dadurch sind sie fehleranfälliger, als wenn sie Muße und Ruhe | |
hätten. Möglich, dass es einfach unterging, was sich dort zutrug. Und ein | |
eh schon überlasteter Mitarbeiter ist auch nicht scharf darauf, sich | |
zusätzlichen Stress ans Bein zu binden, indem er eine suspekte Beobachtung | |
weitergibt und einen Kollegen nach oben meldet. Was, wenn sich der Hinweis | |
als falsch entpuppt? Das kann sehr unangenehm sein. In Oldenburg standen zu | |
der Zeit, als Högel dort tätig war, die Verantwortlichen, insbesondere die | |
Geschäftsführung, eh gehörig unter Druck. Das Haus war bereits in einer | |
schwierigen Lage wegen mehrerer tragischer Pannen und Unglücke. | |
Nämlich? | |
Es gab das Oldenburger Baby, einen Jungen, der 1997 im Klinikum eine | |
misslungene Abtreibung überlebte und anschließend mehrere Stunden ohne | |
medizinische Versorgung blieb. Damit machte das Klinikum bundesweit | |
Schlagzeilen. Dann kam es 2001 zu einem Hygiene-Skandal, Patienten starben | |
durch verkeimtes Kontrastmittel, und wieder machte das Klinikum | |
Schlagzeilen. Beide Male gingen die Belegungszahlen zurück, die | |
Erlössituation verschlechterte sich. Und dann verhält sich genau in dieser | |
Krise ein Pfleger gefährlich. Alle sehen es, es gibt Gerüchte, es gibt | |
Hinweise. Aber niemand von den hochdotierten Führungsleuten redet offen mit | |
diesem Mann. Nicht der Chefarzt, der etwas wittert, nicht der | |
Geschäftsführer, nicht die Pflegedienstleiterin. | |
Eine Schlüsselszene in diesem Prozess war der Moment, als sich die | |
Pflegedirektorin an Niels Högel wandte, der als bereits verurteilter Mörder | |
eine Zeugenaussage machte. Es war das einzige Mal, dass sich jemand von den | |
Angeklagten vor Gericht überhaupt zu Wort meldete. Högel schilderte gerade, | |
welche Probleme er seinerzeit hatte: die Trennung von seiner Frau, | |
Einsamkeit, Alkohol, Überlastung. Da meldete sich die Pflegedirektorin, die | |
Chefin aller Pflegerinnen und Pfleger, also auch Högels damalige | |
Vorgesetzte, und sagte: „Aber ich bin doch die Schwester der Schwestern. | |
Sie hätten jederzeit zu mir kommen können. Warum sind Sie denn nicht zu mir | |
gekommen? Wir hätten eine Lösung gefunden.“ Was kann man an diesem Einwurf | |
im Gerichtssaal erkennen? | |
Bitte beachten Sie, wie Högel reagierte. Er drehte sich zu der Frau um und | |
sagte: „Sollte ich zu Ihnen kommen und sagen, dass ich Leute umbringe?“ Ich | |
hatte in jenem Moment den Eindruck, dass diese Pflegedienstleitung ihre | |
Aufgabe ebenso wohlmeinend wie naiv erledigte, dabei aber nicht gesehen und | |
nicht gespürt hat, wie riesengroß ihre Distanz zur realen Lebenswelt ihrer | |
Untergebenen war, als deren fürsorgliche Schwester sie sich sah. „Schwester | |
der Schwestern“, damit meinte sie ja: eine von ihnen, den Pflegerinnen und | |
Pflegern. | |
Aber Högel hätte ja tatsächlich zu ihr kommen können. | |
Da wird aber doch Verantwortung delegiert! Der Betroffene soll Rat suchen – | |
warum kommt er denn nicht? Vorgesetzte müssen erst einmal Strukturen und | |
eine Atmosphäre schaffen, in der das überhaupt denkbar ist. Allein zu | |
sagen, „Sie hätten doch zu mir kommen können“, hilft höchstens der | |
Vorgesetzten weiter. | |
Sie sagten eben, Verantwortliche müssten in solchen Situationen ihrer | |
Verantwortung gerecht werden und handeln. Aber wie denn? | |
Indem sie nicht wegsehen oder unangenehme Gespräche wegdelegieren, sondern | |
Hinweisen nachgehen, von sich aus nachfragen, mit ihrem Personal reden, | |
aufklären. | |
Was wäre denn konkret im Fall Niels Högel richtig gewesen, nachdem es erste | |
Auffälligkeiten gab, etwa die hohe Zahl an Todesfällen in seinen Schichten? | |
Nicht warten, bis der Pfleger selbst kommt und reden möchte, sondern das | |
direkte Gespräch suchen, die Auffälligkeiten behutsam ansprechen, Hilfe | |
anbieten. Schon alleine eine Rückmeldung wie „Niels, uns ist da dieses und | |
jenes aufgefallen – können wir, müssen wir, sollen wir irgendwas tun?“ | |
hätte vielleicht schon etwas bewirkt. Das wäre eine Hemmschwelle gewesen, | |
weil er registriert hätte: Oh, ich bin aufgefallen. Stattdessen werden | |
solche Ahnungen unter den Teppich gekehrt, um nicht neue Schlagzeilen zu | |
produzieren. | |
Högel wurde zur Kündigung gedrängt, bekam ein gutes Zeugnis, bewarb sich | |
damit in Delmenhorst – und mordete dort weiter. | |
Erst wurde er auf eine andere Station im Oldenburger Klinikum verschoben, | |
weg aus der Herzchirurgie, weil der Chefarzt ihn nicht mehr um sich haben | |
wollte, dann wurde er aus dem Klinikum gedrängt. Also: Weg von mir, weg von | |
uns! | |
Ist möglicherweise die Angst bei diesen Führungskräften zu groß, jemandem | |
etwas Falsches anzulasten? | |
Ja, sicher. Es ist die Frage, wie ich ein solches Gespräch führe. Das muss | |
ja nicht konfrontativ-vorwurfsvoll sein. Wenn man das macht, ohne | |
Verdächtigungen auszustoßen, wenn man dem Gesprächspartner signalisiert, | |
dass man sich für sein Befinden interessiert, wird es häufig gelingen, eine | |
Verhärtung zu verhindern. Und es wird in vielen Fällen gelingen, einen Weg | |
zu finden, den man gemeinsam gehen kann und der verantwortlich ist im Sinne | |
der Patientensicherheit. | |
Solche Gespräche muss man führen können. Lernen Führungskräfte in | |
Krankenhäusern so etwas? | |
Nein, das lernen sie nicht. Entweder man bringt dieses Talent mit oder | |
nicht. Besonders gefährlich sind die, die es nicht können, aber meinen, es | |
zu können, und dann Gespräche führen, die besser unterblieben wären. Aber | |
man kann auch auf die Idee kommen, sich beraten zu lassen – wenn die Bilanz | |
nicht stimmt, machen sie das ja sofort. | |
In diesem Fall war es ein Chefarzt, der etwas spürte und, anstatt mit dem | |
Pfleger zu reden, den Mann loswerden wollte. Nach welchen Kriterien werden | |
Chefärzte eigentlich ausgewählt? | |
„Der kann gut operieren“: Das ist das Kriterium. Die von Rudolf Virchow | |
stammende Weisheit, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft ist, ist | |
ziemlich ins Hintertreffen geraten in den letzten 30, 40 Jahren. Die | |
Führungskompetenz von Chefärzten ist ein Einstellungskriterium, das relativ | |
wenig Beachtung findet. Aber ich will es nicht verhehlen: Auch ich will | |
mich lieber von einem unsympathischen, technisch hochversierten | |
Kardio-Chirurgen operieren lassen, als von jemandem, der völlig empathisch | |
ist, aber nicht operieren kann. | |
Empathie hätte hier aber vielleicht geholfen. Gibt es für Leute, die | |
aufgrund ihrer herausragenden operativen Fähigkeiten ausgewählt werden, | |
denn nicht Fortbildungsmöglichkeiten auf diesem ganz anderen, weicheren | |
Sektor? | |
Die gibt es reichlich. Aber es sind freiwillige Veranstaltungen, die man | |
nicht besuchen muss. In heutigen Krankenhäusern sind andere Dinge gefragt | |
als die, über die wir jetzt hier reden. In dem Augenblick, in dem ich ein | |
Krankenhaussystem dem Markt überantworte und aus einem Phänomen, das früher | |
mal Gesundheitswesen hieß, eine Gesundheitswirtschaft mache, muss ich mich | |
nicht wundern, dass die Geister, die ich gerufen habe, auch wirklich | |
kommen. Und die sind jetzt da. Mehr als 30 Prozent der Krankenhäuser in | |
Deutschland sind mittlerweile privatisiert und auf ökonomische Leistung | |
getrimmt. | |
Lassen Sie uns über Ihre Forschung zu dem Thema sprechen. Sie haben sich | |
intensiv damit beschäftigt, warum Pfleger und Pflegerinnen morden. In einem | |
Aufsatz, den Sie neulich publiziert haben, geht es um zwölf Mordserien in | |
Deutschland. Welche Typen von Pflegern begehen solche Mordtaten? Warum | |
passiert das immer wieder? | |
Was alle Täter eint, ist eine weit überdurchschnittlich hohe | |
Selbstunsicherheit. Sie sind wenig überzeugt vom eigenen Wert, zweifeln an | |
sich selbst und sind demzufolge stark angewiesen auf Lob, auf Anerkennung | |
von außen. Zugleich genießen helfende Berufsgruppen ein vergleichsweise | |
hohes Ansehen. Und junge Leute, die mit wenig Selbstbewusstsein | |
aufgewachsen sind, hoffen unbewusst darauf, dass auch sie ein bisschen von | |
dem Glanz, der auf Mutter Teresa gestrahlt hat, abkriegen. | |
Eine Hoffnung, die im Arbeitsalltag enttäuscht wird? | |
Die Realität ist das krasse Gegenteil davon. Nicht alle Patienten sind nett | |
und freundlich und dankbar. Nicht alle Kollegen sind kollegial. Es gibt | |
Konflikte und Belastungen. In dieser Lage vermengt sich das | |
Selbstwert-Problem mit der eigenen Scham wegen dieses Defizits. Solche | |
Menschen öffnen sich für gewöhnlich nicht, suchen keine Hilfe, nicht das | |
Gespräch. Und dann kann sich im Laufe der Zeit diese Selbstunsicherheit so | |
auswirken, dass sich jemand Sensationen verschafft. Das ist der Typ Niels | |
Högel. Das hat es in diesem Ausmaß vorher nicht gegeben. Er suchte Glanz, | |
indem er Menschen in die Lage versetzte, von ihm wiederbelebt zu werden. | |
Das ist ein Mensch, der diesen Beruf nicht zuletzt deshalb ergriff, um | |
seinen eigenen labilen, unzureichend ausgewickelten Selbstwert zu | |
stabilisieren und sich groß zu fühlen. | |
Sie sprechen hier also konkret von Niels Högel? | |
Konkret von Niels Högel. Diese vordergründige, flüchtige | |
Selbstwert-Stabilisierung, die hat er über erfolgreiche Reanimationen | |
erfahren, die er selbst zuvor provoziert hatte. | |
Wie ist es sonst, bei anderen? | |
Der wesentlich häufigere Typ ist der, der nicht gesehen wird von | |
Kolleginnen und von Vorgesetzten. Meldungen über absonderliches Verhalten | |
versickern, und diese Menschen geraten dann über lange Zeit in eine | |
Situation, in der sie das eigene Leiden an sich selbst in Konfrontation mit | |
dem Leiden des Patienten, dem es schlecht geht, nicht mehr | |
auseinanderhalten können. So verschmilzt das eigene Leiden mit dem fremden | |
und das fremde mit dem eigenen. Eine Krankenschwester, die in Berlin | |
Patienten ermordet hat, hat es so ausgedrückt: Mir geht es schlecht und Dir | |
geht es schlecht, und bei Dir mache ich damit nun Schluss. Das ist | |
prototypisch für diesen Tätertypus. | |
Als Patient oder Angehöriger kriegt man das gedanklich nicht zusammen, man | |
denkt: Das sind doch die, die helfen wollen. | |
Das trifft ja auch auf fast alle Pflegekräfte zu. Einen Generalverdacht | |
kann und darf es nicht geben. Umso wichtiger, dass diejenigen, die aus dem | |
Ruder laufen, frühzeitig gesehen und gestoppt werden. Es sind eben nicht | |
alle Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, direkte Nachfahren von | |
Florence Nightingale oder Albert Schweitzer. Da laufen nicht nur gute und | |
edle Menschen rum – wie überall. Aber guten und kompetenten Menschen | |
vertrauen wir unsere Angehörigen an, und im Krankheitsfall gehen wir selber | |
dahin. | |
Diese Berufsgruppen sind diejenigen, von denen ich am wenigsten erwarte, | |
dass sie mir Leid zufügen. Die Arglosigkeit von Patientinnen und Patienten | |
und Angehörigen ist in einem Krankenhaus größer als an jedem anderen Ort. | |
Auch deshalb gibt es keinen idealeren Tatort. Gestorben wird da sowieso, | |
Tode fallen nicht weiter auf. Die Tatausführung sieht aus wie eine | |
pflegerische oder medizinische Verrichtung und die Mordwerkzeuge liegen | |
überall herum. | |
In dem Moment, in dem sie diese Mordwerkzeuge anwenden, sind die Pfleger | |
Einzeltäter. Wie Niels Högel. Was müsste sich ändern, um so etwas zu | |
verhindern? | |
Die Grundvoraussetzung ist das Wissen um solche Morde, also Aufklärung, und | |
vor allem auch Zeit. Zeit, die Pflegerinnen und Pfleger brauchen im Umgang | |
mit Patientinnen und Patienten, und Zeit, die sie brauchen für | |
Beobachtungen und zum kollegialen Austausch. Zeit für Fortbildungen, Zeit | |
zum Durchatmen. Zeit auch für Verantwortliche, für ihre Leute da zu sein. | |
Das ist das, was fehlt. | |
Stand früher mehr Zeit für all das zur Verfügung? | |
Natürlich, das hat sich zurückentwickelt. Fragen Sie mal Ärzte oder | |
Pflegerinnen im Ruhestand. Die sagen eigentlich alle, dass Krankenhäuser | |
heute Orte sind, an denen es nicht mehr um den Menschen und seine | |
Bedürfnisse geht. Patienten sind Fälle, die abgearbeitet werden müssen. | |
Solange die Pflege und die Medizin so entwertet werden und Pflegerinnen und | |
Pfleger das Gefühl haben, sie sind nichts anderes als Kostenfaktoren auf | |
zwei Beinen, solange wird sich das nicht ändern. | |
Der Beifall von den Balkonen in Zeiten der Pandemie ist schön und nett, | |
aber das, was de facto jeden Tag vor Ort passiert, das will niemand sehen | |
und hören. Katastrophale Arbeitsbedingungen sind das, und die Beschäftigten | |
laufen reihenweise weg aus den Krankenhäusern, weil sie es nicht aushalten. | |
Unsere Gesundheitspolitik versagt erbärmlich. Wenn die Kommunen im | |
Angesicht von Defiziten ihre Krankenhäuser verkaufen, weil sie die | |
Daseinsfürsorge nicht mehr leisten wollen, dann ist es so wie das Verhalten | |
des Geschäftsführers des Oldenburger Klinikums in Sachen Niels Högel: Bloß | |
weg von uns, wir wollen das Problem aus unserer Welt schaffen. | |
In diesem Prozess wurde wenig über Angehörige und Hinterbliebene | |
gesprochen, von denen einige im Saal saßen. Was meinen Sie, wie gehen die | |
damit um, dass das Verhalten der Angeklagten ungesühnt bleibt? | |
Manche werden den Glauben an die Justiz verloren haben. Ich kenne mehrere, | |
die sich verbittert abgewendet und die Verhandlungen nicht mehr verfolgt | |
haben. Und es wird welche geben, die sagen: „Gott sei Dank, dass das | |
wenigstens stattgefunden hat, dass die sich hier rechtfertigen mussten“. | |
Das sind Erfahrungen, die wir alle nicht kennen. Stellen Sie sich eine | |
Witwe vor, Mutter dreier Kinder, deren Mann in einem Bremer Krankenhaus lag | |
und dort nicht gut behandelt wurde. Sie sorgt dafür, dass ihr Mann nach | |
Delmenhorst kommt – und dann wird der dort umgebracht. Man kann nicht | |
ermessen, was in dieser Frau vorgeht, wie alleingelassen sie ist mit ihrem | |
Leid. Wenn sie nun sieht, dass die Verantwortlichen straffrei ausgehen, | |
wird sie wohl keine Lobeshymnen auf die deutsche Justiz und die | |
Krankenhäuser singen. | |
30 Oct 2022 | |
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