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# taz.de -- Psychiater über Prozess um Klinikmorde: Mörderischer Kostendruck
> Mindestens 89 Patienten hat Pfleger Niels Högel getötet. Nun standen
> seine Vorgesetzten vor Gericht. Psychiater Karl H. Beine über Fehler im
> System.
Bild: Immer in Eile, kaum ein offenes Gespräch mit den Vorgesetzten: Pflegekr�…
Oldenburg, Weser-Ems-Halle, gerade ist in einem der Festsäle dieses
Hallenkomplexes [1][ein wichtiger Strafprozess] zu Ende gegangen. Das
fünfte Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der [2][monströsen Mordserie
des Krankenpflegers Niels Högel], der zwischen 1999 und 2005 an den
Kliniken Oldenburg und Delmenhorst mindestens 89 Patient*innen ermordet
hat. In vier Prozessen wurde er mehrfach zu lebenslangen Freiheitsstrafen
verurteilt.
Vier Prozesse, weil durch neue Ermittlungen immer mehr Todesfälle bekannt
wurden, die mit Högel in Zusammenhang stehen könnten. Im Rahmen der
Ermittlungen der Soko „Kardio“ wurden seit 2014 auf Dutzenden Friedhöfen
134 Leichen exhumiert, um sie auf Rückstände der Medikamente zu
untersuchen, mit denen Högel gemordet hat. 130 weitere seiner potenziellen
Opfer waren feuerbestattet worden. Es wird ungeklärt bleiben, ob auch sie
durch Högels Manipulationen gestorben sind.
Nun waren seit Februar 2022 [3][sieben seiner ehemaligen Vorgesetzten in
Oldenburg und Delmenhorst angeklagt] – wegen Beihilfe zur Tötung durch
Unterlassen. Darunter der ehemalige Chefarzt der Herzchirurgie, die
Pflegedienstleiterin und der damalige Geschäftsführer des Klinikums
Oldenburg. Begleitet wurde der Prozess von 18 Strafverteidigern,
Strafkammer und Staatsanwaltschaft. Das Landgericht Oldenburg hatte extra
eine Außenstelle dafür eingerichtet, in dieser Halle, in der sonst Abibälle
stattfinden, Konzerte, ursprünglich vor allem Viehauktionen.
17 Jahre nach dem letzten Mord Högels im Klinikum Delmenhorst ist die
juristische Aufarbeitung dieser beispiellosen Mordserie mit diesem Prozess
beendet worden. Alle Angeklagten wurden freigesprochen, weil man ihnen
nicht nachweisen konnte, dass sie von Högels Taten wussten und dennoch
nichts dagegen unternahmen. Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen setzt
Vorsatz voraus, der konnte ihnen nicht nachgewiesen werden.
An den 29 Verhandlungstagen immer mit im Zuschauerraum: Karl H. Beine, bis
2021 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität
Witten/Herdecke. Beine erforscht Mordserien an Krankenhäusern. Nach dem
Freispruch sprechen wir in einem Hotel gegenüber der Weser-Ems-Halle über
mordende Pfleger, das beschädigte Gesundheitssystem in Deutschland und über
die Bedeutung dieses Prozesses.
taz am wochenende: Herr Beine, seit Februar haben wir uns immer wieder in
diesem Saal getroffen. Das Verfahren gegen Högels frühere Vorgesetzte ist
der Schlusspunkt für die Aufarbeitung der Mordserie. Wie wichtig war dieser
Prozess aus Ihrer Sicht?
Karl H. Beine: Es war das erste Mal, dass in Deutschland ein Prozess gegen
Verantwortliche geführt wurde, in deren Bereich solche Tötungsserien
geschehen sind. Ich halte es für fundamental wichtig, dass er stattgefunden
hat, weil damit klar geworden ist, dass persönliche Verantwortung für die
Sicherheit der Patienten auf keiner Hierarchieebene delegierbar ist. Das
fängt bei den unmittelbaren patientennahen Berufsgruppen an, Pflegern und
Ärzten, und endet – das sage ich mit Ausrufezeichen – bei der
Geschäftsführung.
Der Geschäftsführer ist in einem großen Krankenhaus aber doch weit weg vom
Pfleger am Patientenbett?
Könnte man denken, und das ist auch das, was die Verteidigung hier immer
wieder vermittelt hat: Was hat unser Mandant damit zu tun? Dabei hat dieser
Prozess deutlich gezeigt, wie nah der Mann am Geschehen dran war.
Vor dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft wurde im Gerichtssaal ein Telefonat
abgespielt, das während der Ermittlungen gegen Pflegestationsleiter Bernd
N. aufgezeichnet worden war. N., der als Vorgesetzter Högels angeklagt war,
hatte auf Geheiß des ebenfalls angeklagten Chefs der Herzchirurgie eine
Liste erstellt – mit den Namen der diensthabenden Pflegekräfte und den
Todesfällen bei Reanimationen. Högel führte jene Liste mit 18 Todesfällen
weit abgeschlagen an.
Seit 1999 hat er Patienten umgebracht, indem er ihnen heimlich nicht
indizierte Mittel verabreichte. Kalium, Gilurytmal, Sotalex, Xylocain und
Cordarex: Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen, deren Missbrauch tödlich
enden kann. Högel spritzte sie und verließ die Zimmer. Sobald die
Warnsignale der Geräte, an die die Patienten angeschlossen waren, Alarm
schlugen, versuchte er, die Menschen wiederzubeleben. Gelang das, wurde er
gelobt. Oft aber gelang es nicht. Das sind Högels Todesopfer.
In dem abgehörten Telefongespräch erzählt Pflegestationsleiter N. einem
Bekannten, wie er den Geschäftsführer des Klinikums auf Högel hingewiesen
und gesagt habe, jetzt müsse man doch die Polizei benachrichtigen. Der
Geschäftsführer habe das jedoch verhindert. „Jetzt reicht es aber“, habe
der gesagt, es gebe doch keine Beweise. [4][Der Geschäftsführer war also
mit den Vorgängen vertraut, hat aber nichts unternommen.] Deshalb war er
nun angeklagt. Die Staatsanwältin hat in ihrem Plädoyer für Freispruch
plädiert. Einige der Angeklagten hätten zwar Schuld auf sich geladen, die
sei aber nicht justiziabel. Fahrlässiges Handeln hätte juristisch bestraft
werden können, verjährt aber nach fünf Jahren. In diesem Prozess ging es um
Taten, die sich von 1999 bis 2005 erstreckten.
Allein das Zustandekommen dieses Prozesses hat klargemacht, dass
Patientensicherheit in Krankenhäusern absolute Priorität haben muss. Es
kann und darf nicht primär um die sprichwörtliche schwarze Null und den Ruf
des Hauses gehen, die qualifizierte Versorgung von Patienten muss im
Mittelpunkt stehen. Das muss auch demjenigen klar sein, der die Geschäfte
eines Krankenhauses führt. Auch deshalb dürfte dieser Prozess in vielen
Chefetagen deutscher Krankenhäuser mit gespanntem Interesse verfolgt worden
sein.
Sind Geschäftsführer von Krankenhäusern zu sehr auf die ökonomischen
Bilanzen bedacht? Und das Patientenwohl bleibt dabei auf der Strecke? Kann
man das so einfach sagen?
Krankenhäuser in Deutschland sind primär an der Erlössituation orientiert.
Der archimedische Punkt an einer Klinik ist die schwarze Null oder der
Gewinn. Alles andere richtet sich danach aus. Die Personalausstattung
kommt, was Krankenschwestern und -pfleger angeht, heute der gleich, wie sie
Mitte der 1990er Jahre gewesen ist, und das mit sehr viel mehr Patienten,
die bei kürzeren Liegezeiten durch die Krankenhäuser geschleust werden.
Weil ich ja aus dem Ruhrgebiet komme, sage ich immer: Wenn Sie in Essen aus
dem Zug steigen, 50 Jahre sind oder älter, humpeln Sie nicht, weil sich im
Umkreis von 25 Kilometern mindestens 60 Kliniken finden, die künstliche
Hüftgelenke einbauen wollen. Diese Kliniken konkurrieren alle miteinander
um den gleichen Patienten, weil eine solche Operation lukrativ ist. Die
einzelnen Krankenhäuser sind durch die Jünger des Marktes in diese
Situation gezwungen worden. Es geht nicht um eine wissenschaftlich basierte
oder um eine auf Krankheiten bezogene Planung.
Wie ist das im Zusammenhang mit den Taten Högels und seinen angeklagten
Vorgesetzten zu betrachten?
Pflegerinnen und Pfleger müssen ihre Arbeit unter hohem Zeitdruck
erledigen, dadurch sind sie fehleranfälliger, als wenn sie Muße und Ruhe
hätten. Möglich, dass es einfach unterging, was sich dort zutrug. Und ein
eh schon überlasteter Mitarbeiter ist auch nicht scharf darauf, sich
zusätzlichen Stress ans Bein zu binden, indem er eine suspekte Beobachtung
weitergibt und einen Kollegen nach oben meldet. Was, wenn sich der Hinweis
als falsch entpuppt? Das kann sehr unangenehm sein. In Oldenburg standen zu
der Zeit, als Högel dort tätig war, die Verantwortlichen, insbesondere die
Geschäftsführung, eh gehörig unter Druck. Das Haus war bereits in einer
schwierigen Lage wegen mehrerer tragischer Pannen und Unglücke.
Nämlich?
Es gab das Oldenburger Baby, einen Jungen, der 1997 im Klinikum eine
misslungene Abtreibung überlebte und anschließend mehrere Stunden ohne
medizinische Versorgung blieb. Damit machte das Klinikum bundesweit
Schlagzeilen. Dann kam es 2001 zu einem Hygiene-Skandal, Patienten starben
durch verkeimtes Kontrastmittel, und wieder machte das Klinikum
Schlagzeilen. Beide Male gingen die Belegungszahlen zurück, die
Erlössituation verschlechterte sich. Und dann verhält sich genau in dieser
Krise ein Pfleger gefährlich. Alle sehen es, es gibt Gerüchte, es gibt
Hinweise. Aber niemand von den hochdotierten Führungsleuten redet offen mit
diesem Mann. Nicht der Chefarzt, der etwas wittert, nicht der
Geschäftsführer, nicht die Pflegedienstleiterin.
Eine Schlüsselszene in diesem Prozess war der Moment, als sich die
Pflegedirektorin an Niels Högel wandte, der als bereits verurteilter Mörder
eine Zeugenaussage machte. Es war das einzige Mal, dass sich jemand von den
Angeklagten vor Gericht überhaupt zu Wort meldete. Högel schilderte gerade,
welche Probleme er seinerzeit hatte: die Trennung von seiner Frau,
Einsamkeit, Alkohol, Überlastung. Da meldete sich die Pflegedirektorin, die
Chefin aller Pflegerinnen und Pfleger, also auch Högels damalige
Vorgesetzte, und sagte: „Aber ich bin doch die Schwester der Schwestern.
Sie hätten jederzeit zu mir kommen können. Warum sind Sie denn nicht zu mir
gekommen? Wir hätten eine Lösung gefunden.“ Was kann man an diesem Einwurf
im Gerichtssaal erkennen?
Bitte beachten Sie, wie Högel reagierte. Er drehte sich zu der Frau um und
sagte: „Sollte ich zu Ihnen kommen und sagen, dass ich Leute umbringe?“ Ich
hatte in jenem Moment den Eindruck, dass diese Pflegedienstleitung ihre
Aufgabe ebenso wohlmeinend wie naiv erledigte, dabei aber nicht gesehen und
nicht gespürt hat, wie riesengroß ihre Distanz zur realen Lebenswelt ihrer
Untergebenen war, als deren fürsorgliche Schwester sie sich sah. „Schwester
der Schwestern“, damit meinte sie ja: eine von ihnen, den Pflegerinnen und
Pflegern.
Aber Högel hätte ja tatsächlich zu ihr kommen können.
Da wird aber doch Verantwortung delegiert! Der Betroffene soll Rat suchen –
warum kommt er denn nicht? Vorgesetzte müssen erst einmal Strukturen und
eine Atmosphäre schaffen, in der das überhaupt denkbar ist. Allein zu
sagen, „Sie hätten doch zu mir kommen können“, hilft höchstens der
Vorgesetzten weiter.
Sie sagten eben, Verantwortliche müssten in solchen Situationen ihrer
Verantwortung gerecht werden und handeln. Aber wie denn?
Indem sie nicht wegsehen oder unangenehme Gespräche wegdelegieren, sondern
Hinweisen nachgehen, von sich aus nachfragen, mit ihrem Personal reden,
aufklären.
Was wäre denn konkret im Fall Niels Högel richtig gewesen, nachdem es erste
Auffälligkeiten gab, etwa die hohe Zahl an Todesfällen in seinen Schichten?
Nicht warten, bis der Pfleger selbst kommt und reden möchte, sondern das
direkte Gespräch suchen, die Auffälligkeiten behutsam ansprechen, Hilfe
anbieten. Schon alleine eine Rückmeldung wie „Niels, uns ist da dieses und
jenes aufgefallen – können wir, müssen wir, sollen wir irgendwas tun?“
hätte vielleicht schon etwas bewirkt. Das wäre eine Hemmschwelle gewesen,
weil er registriert hätte: Oh, ich bin aufgefallen. Stattdessen werden
solche Ahnungen unter den Teppich gekehrt, um nicht neue Schlagzeilen zu
produzieren.
Högel wurde zur Kündigung gedrängt, bekam ein gutes Zeugnis, bewarb sich
damit in Delmenhorst – und mordete dort weiter.
Erst wurde er auf eine andere Station im Oldenburger Klinikum verschoben,
weg aus der Herzchirurgie, weil der Chefarzt ihn nicht mehr um sich haben
wollte, dann wurde er aus dem Klinikum gedrängt. Also: Weg von mir, weg von
uns!
Ist möglicherweise die Angst bei diesen Führungskräften zu groß, jemandem
etwas Falsches anzulasten?
Ja, sicher. Es ist die Frage, wie ich ein solches Gespräch führe. Das muss
ja nicht konfrontativ-vorwurfsvoll sein. Wenn man das macht, ohne
Verdächtigungen auszustoßen, wenn man dem Gesprächspartner signalisiert,
dass man sich für sein Befinden interessiert, wird es häufig gelingen, eine
Verhärtung zu verhindern. Und es wird in vielen Fällen gelingen, einen Weg
zu finden, den man gemeinsam gehen kann und der verantwortlich ist im Sinne
der Patientensicherheit.
Solche Gespräche muss man führen können. Lernen Führungskräfte in
Krankenhäusern so etwas?
Nein, das lernen sie nicht. Entweder man bringt dieses Talent mit oder
nicht. Besonders gefährlich sind die, die es nicht können, aber meinen, es
zu können, und dann Gespräche führen, die besser unterblieben wären. Aber
man kann auch auf die Idee kommen, sich beraten zu lassen – wenn die Bilanz
nicht stimmt, machen sie das ja sofort.
In diesem Fall war es ein Chefarzt, der etwas spürte und, anstatt mit dem
Pfleger zu reden, den Mann loswerden wollte. Nach welchen Kriterien werden
Chefärzte eigentlich ausgewählt?
„Der kann gut operieren“: Das ist das Kriterium. Die von Rudolf Virchow
stammende Weisheit, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft ist, ist
ziemlich ins Hintertreffen geraten in den letzten 30, 40 Jahren. Die
Führungskompetenz von Chefärzten ist ein Einstellungskriterium, das relativ
wenig Beachtung findet. Aber ich will es nicht verhehlen: Auch ich will
mich lieber von einem unsympathischen, technisch hochversierten
Kardio-Chirurgen operieren lassen, als von jemandem, der völlig empathisch
ist, aber nicht operieren kann.
Empathie hätte hier aber vielleicht geholfen. Gibt es für Leute, die
aufgrund ihrer herausragenden operativen Fähigkeiten ausgewählt werden,
denn nicht Fortbildungsmöglichkeiten auf diesem ganz anderen, weicheren
Sektor?
Die gibt es reichlich. Aber es sind freiwillige Veranstaltungen, die man
nicht besuchen muss. In heutigen Krankenhäusern sind andere Dinge gefragt
als die, über die wir jetzt hier reden. In dem Augenblick, in dem ich ein
Krankenhaussystem dem Markt überantworte und aus einem Phänomen, das früher
mal Gesundheitswesen hieß, eine Gesundheitswirtschaft mache, muss ich mich
nicht wundern, dass die Geister, die ich gerufen habe, auch wirklich
kommen. Und die sind jetzt da. Mehr als 30 Prozent der Krankenhäuser in
Deutschland sind mittlerweile privatisiert und auf ökonomische Leistung
getrimmt.
Lassen Sie uns über Ihre Forschung zu dem Thema sprechen. Sie haben sich
intensiv damit beschäftigt, warum Pfleger und Pflegerinnen morden. In einem
Aufsatz, den Sie neulich publiziert haben, geht es um zwölf Mordserien in
Deutschland. Welche Typen von Pflegern begehen solche Mordtaten? Warum
passiert das immer wieder?
Was alle Täter eint, ist eine weit überdurchschnittlich hohe
Selbstunsicherheit. Sie sind wenig überzeugt vom eigenen Wert, zweifeln an
sich selbst und sind demzufolge stark angewiesen auf Lob, auf Anerkennung
von außen. Zugleich genießen helfende Berufsgruppen ein vergleichsweise
hohes Ansehen. Und junge Leute, die mit wenig Selbstbewusstsein
aufgewachsen sind, hoffen unbewusst darauf, dass auch sie ein bisschen von
dem Glanz, der auf Mutter Teresa gestrahlt hat, abkriegen.
Eine Hoffnung, die im Arbeitsalltag enttäuscht wird?
Die Realität ist das krasse Gegenteil davon. Nicht alle Patienten sind nett
und freundlich und dankbar. Nicht alle Kollegen sind kollegial. Es gibt
Konflikte und Belastungen. In dieser Lage vermengt sich das
Selbstwert-Problem mit der eigenen Scham wegen dieses Defizits. Solche
Menschen öffnen sich für gewöhnlich nicht, suchen keine Hilfe, nicht das
Gespräch. Und dann kann sich im Laufe der Zeit diese Selbstunsicherheit so
auswirken, dass sich jemand Sensationen verschafft. Das ist der Typ Niels
Högel. Das hat es in diesem Ausmaß vorher nicht gegeben. Er suchte Glanz,
indem er Menschen in die Lage versetzte, von ihm wiederbelebt zu werden.
Das ist ein Mensch, der diesen Beruf nicht zuletzt deshalb ergriff, um
seinen eigenen labilen, unzureichend ausgewickelten Selbstwert zu
stabilisieren und sich groß zu fühlen.
Sie sprechen hier also konkret von Niels Högel?
Konkret von Niels Högel. Diese vordergründige, flüchtige
Selbstwert-Stabilisierung, die hat er über erfolgreiche Reanimationen
erfahren, die er selbst zuvor provoziert hatte.
Wie ist es sonst, bei anderen?
Der wesentlich häufigere Typ ist der, der nicht gesehen wird von
Kolleginnen und von Vorgesetzten. Meldungen über absonderliches Verhalten
versickern, und diese Menschen geraten dann über lange Zeit in eine
Situation, in der sie das eigene Leiden an sich selbst in Konfrontation mit
dem Leiden des Patienten, dem es schlecht geht, nicht mehr
auseinanderhalten können. So verschmilzt das eigene Leiden mit dem fremden
und das fremde mit dem eigenen. Eine Krankenschwester, die in Berlin
Patienten ermordet hat, hat es so ausgedrückt: Mir geht es schlecht und Dir
geht es schlecht, und bei Dir mache ich damit nun Schluss. Das ist
prototypisch für diesen Tätertypus.
Als Patient oder Angehöriger kriegt man das gedanklich nicht zusammen, man
denkt: Das sind doch die, die helfen wollen.
Das trifft ja auch auf fast alle Pflegekräfte zu. Einen Generalverdacht
kann und darf es nicht geben. Umso wichtiger, dass diejenigen, die aus dem
Ruder laufen, frühzeitig gesehen und gestoppt werden. Es sind eben nicht
alle Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, direkte Nachfahren von
Florence Nightingale oder Albert Schweitzer. Da laufen nicht nur gute und
edle Menschen rum – wie überall. Aber guten und kompetenten Menschen
vertrauen wir unsere Angehörigen an, und im Krankheitsfall gehen wir selber
dahin.
Diese Berufsgruppen sind diejenigen, von denen ich am wenigsten erwarte,
dass sie mir Leid zufügen. Die Arglosigkeit von Patientinnen und Patienten
und Angehörigen ist in einem Krankenhaus größer als an jedem anderen Ort.
Auch deshalb gibt es keinen idealeren Tatort. Gestorben wird da sowieso,
Tode fallen nicht weiter auf. Die Tatausführung sieht aus wie eine
pflegerische oder medizinische Verrichtung und die Mordwerkzeuge liegen
überall herum.
In dem Moment, in dem sie diese Mordwerkzeuge anwenden, sind die Pfleger
Einzeltäter. Wie Niels Högel. Was müsste sich ändern, um so etwas zu
verhindern?
Die Grundvoraussetzung ist das Wissen um solche Morde, also Aufklärung, und
vor allem auch Zeit. Zeit, die Pflegerinnen und Pfleger brauchen im Umgang
mit Patientinnen und Patienten, und Zeit, die sie brauchen für
Beobachtungen und zum kollegialen Austausch. Zeit für Fortbildungen, Zeit
zum Durchatmen. Zeit auch für Verantwortliche, für ihre Leute da zu sein.
Das ist das, was fehlt.
Stand früher mehr Zeit für all das zur Verfügung?
Natürlich, das hat sich zurückentwickelt. Fragen Sie mal Ärzte oder
Pflegerinnen im Ruhestand. Die sagen eigentlich alle, dass Krankenhäuser
heute Orte sind, an denen es nicht mehr um den Menschen und seine
Bedürfnisse geht. Patienten sind Fälle, die abgearbeitet werden müssen.
Solange die Pflege und die Medizin so entwertet werden und Pflegerinnen und
Pfleger das Gefühl haben, sie sind nichts anderes als Kostenfaktoren auf
zwei Beinen, solange wird sich das nicht ändern.
Der Beifall von den Balkonen in Zeiten der Pandemie ist schön und nett,
aber das, was de facto jeden Tag vor Ort passiert, das will niemand sehen
und hören. Katastrophale Arbeitsbedingungen sind das, und die Beschäftigten
laufen reihenweise weg aus den Krankenhäusern, weil sie es nicht aushalten.
Unsere Gesundheitspolitik versagt erbärmlich. Wenn die Kommunen im
Angesicht von Defiziten ihre Krankenhäuser verkaufen, weil sie die
Daseinsfürsorge nicht mehr leisten wollen, dann ist es so wie das Verhalten
des Geschäftsführers des Oldenburger Klinikums in Sachen Niels Högel: Bloß
weg von uns, wir wollen das Problem aus unserer Welt schaffen.
In diesem Prozess wurde wenig über Angehörige und Hinterbliebene
gesprochen, von denen einige im Saal saßen. Was meinen Sie, wie gehen die
damit um, dass das Verhalten der Angeklagten ungesühnt bleibt?
Manche werden den Glauben an die Justiz verloren haben. Ich kenne mehrere,
die sich verbittert abgewendet und die Verhandlungen nicht mehr verfolgt
haben. Und es wird welche geben, die sagen: „Gott sei Dank, dass das
wenigstens stattgefunden hat, dass die sich hier rechtfertigen mussten“.
Das sind Erfahrungen, die wir alle nicht kennen. Stellen Sie sich eine
Witwe vor, Mutter dreier Kinder, deren Mann in einem Bremer Krankenhaus lag
und dort nicht gut behandelt wurde. Sie sorgt dafür, dass ihr Mann nach
Delmenhorst kommt – und dann wird der dort umgebracht. Man kann nicht
ermessen, was in dieser Frau vorgeht, wie alleingelassen sie ist mit ihrem
Leid. Wenn sie nun sieht, dass die Verantwortlichen straffrei ausgehen,
wird sie wohl keine Lobeshymnen auf die deutsche Justiz und die
Krankenhäuser singen.
30 Oct 2022
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## AUTOREN
Felix Zimmermann
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