# taz.de -- Shoah-Überlebender Stern wird 100: Ein good guy | |
> „Ritchie Boy“, Shoa-Überlebender und Exilforscher: Guy Stern feiert | |
> seinen 100. Geburtstag. Seine Memoiren gibt es nun auch auf Deutsch. | |
Bild: Wird am 14. Januar 100 Jahre alt: Guy Stern (hier eine Aufnahme von 2016) | |
Nur wenige Fotos zeigen [1][Guy Stern] nicht mit strahlendem Lächeln. Es | |
ist sein stets freundlicher Gesichtsausdruck, der diesen bis ins hohe Alter | |
agilen und neugierigen Mann ausmacht, dem man sein Interesse an Austausch, | |
Gespräch und Vermittlung ansieht. | |
Als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie 1922 in Hildesheim geboren, | |
verbrachte Günther Stern eine unbeschwerte Kindheit und Schulzeit in | |
Niedersachsen. Auch wenn die Erinnerungen an die frühe Lebensphase von | |
„Mörtel … aus Vermutungen, Notbehelfen und Schlussfolgerungen“ | |
zusammengehalten werden, treten die geliebten sonntäglichen Ausflüge der | |
Familie und die regelmäßigen Theaterbesuche mit den Eltern hervor. „Ein | |
beinahe idyllischer Anfang“, so Stern, der jäh endete. | |
Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Januar 1933 war für | |
Günther Stern jenes Ereignis, das für ihn „das Ende der Welt verhieß, in | |
der wir gelebt hatten“. Der Ausschluss von Juden aus der deutschen | |
Zivilgesellschaft traf auch den Zwölfjährigen, der nicht mehr Mitglied im | |
geliebten Turnverein sein durfte. Zugehörigkeit und Halt fand er für kurze | |
Zeit im Schwarzen Fähnlein, einer jüdischen Jugendgruppe, bis auch sie | |
verboten wurde. | |
## Brutale Attacke | |
Die Rechtlosigkeit von Juden im Nazideutschland wurde der Familie vor Augen | |
geführt, als der Vater brutal geschlagen wurde, die Attacke jedoch | |
folgenlos blieb. Sterns Eltern entschlossen sich, ihr ältestes Kind aus | |
Deutschland fortzuschicken, in der Hoffnung, dass es ihm gelänge, die | |
Familie zu retten. Dank eines Onkels in den USA, der für ihn bürgte, sowie | |
des hilfsbereiten US-Konsuls in Hamburg gelang Günther Stern als Einzigem | |
seiner fünfköpfigen Familie die Flucht in die USA. | |
Der Abschied von seiner Familie im November 1937 war für immer. Sterns | |
Eltern und jüngere Geschwister wurden im März 1942 deportiert und ermordet. | |
Seine Schulausbildung komplettierte Günther Stern an der Soldan High School | |
in St. Louis, die für ihn den ersten Schritt seiner US-Sozialisation | |
darstellte; ebenso wie seine Arbeit als (Abräum-)Kellner, die ihm nicht nur | |
ein finanzielles Zubrot, sondern eine spezielle Berufserfahrung lieferte. | |
Ein begonnenes Studium unterbrach die freiwillige Meldung zum | |
Militärdienst. Im „Camp Ritchie“, Maryland, zählte er zu den | |
deutschsprachigen, zumeist jüdischen Emigranten (wie Werner Angress, Ernst | |
Cramer, Hans Habe, Stefan Heym, Georg Kreisler), die für militärische | |
Aufklärungsarbeit eingesetzt wurden. | |
Wenige Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie beteiligte er | |
sich als einer der „Ritchie Boys“ am Kampf gegen die Nationalsozialisten | |
und wurde Spezialist für Verhöre deutscher Kriegsgefangener. Aus Günther | |
war mittlerweile Guy und seit 1. Mai 1943 ein US-Staatsbürger geworden. | |
## Die Familie getötet | |
Erst nach der Befreiung Deutschlands erfuhr der 23-Jährige in Hildesheim | |
von der „Umsiedlung“ seiner Angehörigen und deren gewaltsamem Tod. Nach der | |
Rückkehr in die USA begann er das Studium, zuerst Romanistik, dann | |
Germanistik, eine bewusste Form der Selbstbehauptung und zugleich | |
Heimatverbundenheit. | |
Nach Lehrtätigkeiten an verschiedenen US-Hochschulen erhielt Guy Stern 1981 | |
die Berufung als distinguished professor für deutsche Literatur- und | |
Kulturgeschichte an der Wayne State University in Detroit: eine Stellung, | |
die er bis 2003 innehatte. Besonderes Augenmerk gilt der Exilliteratur. | |
Den Vertriebenen aus den deutschsprachigen Heimatländern, den Dichtern im | |
Exil, widmete er unzählige Aufsätze und Reden. Es kann nicht verwundern, | |
dass Guy Stern für sein Lebenswerk im März 2017 der Ovid-Preis des | |
PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland verliehen wurde. | |
## Unermüdlich engagiert | |
Das Spektrum seiner unermüdlichen Aktivitäten ist bewundernswert. Neben | |
Gastprofessuren an Universitäten in Freiburg, Frankfurt, Leipzig, Potsdam | |
und München zählte er zu den Gründungsmitgliedern der Society for Exile | |
Studies sowie der Lessing Society. Er bekleidete unterschiedliche Ämter in | |
der Kurt Weill Foundation for Music, arbeitete im Kuratorium des Leo Baeck | |
Institute; seit 2003 engagiert er sich im Holocaust Memorial Center in | |
Detroit, um insbesondere an „das Heldentum und den Altruismus von Juden | |
zu erinnern, die anderen Juden halfen“. | |
Auch hier ein unmittelbarer biografischer Bezug: Erst 2011 erfuhr Guy | |
Stern, dass er zu den mehr als 1.000 Kindern und Jugendlichen zählte, die | |
dank der selbstlosen Arbeit der German Jewish Children’s Aid vor | |
nationalsozialistischer Verfolgung in die USA gerettet werden konnten. | |
Guy Sterns Wirkungskreis beschränkt sich nicht allein auf die akademische | |
Welt. In öffentlichen Reden – so 1988 anlässlich der Eröffnung des Mahnmals | |
für die zerstörte Hildesheimer Synagoge, zehn Jahre später im Deutschen | |
Bundestag anlässlich des 60. Jahrestags des Novemberpogroms – betonte er | |
die Pflicht zur Erinnerung. | |
Für seine Tätigkeit als Lehrender sowie für sein gesellschaftspolitisches | |
Engagement wurde er vielfach ausgezeichnet, für ihn ganz besonders war | |
gewiss die Verleihung des Ehrenbürgerrechts seiner Geburtsstadt Hildesheim | |
am 8. Mai 2012. | |
## Nachfahre der Aufklärung | |
Die Originalausgabe von Sterns Memoiren erschien 2020 in den USA unter dem | |
Titel „Invisible Ink“: ein Zitat seines sich sorgenden Vaters, der seine | |
Kinder angesichts der bedrohlichen Situation während des | |
Nationalsozialismus ermahnte, sie müssten wie „unsichtbare Tinte“ | |
sein. Dass Guy Stern mit seinem Lebenswerk das Gegenteil erreichte, führen | |
die von seiner Frau Susanna Piontek übersetzten Erinnerungen lebhaft vor | |
Augen. | |
Stern, der sich selbst als „Nachfahren des Zeitalters der Aufklärung“ | |
sieht, fragt auch nach den Motiven für sein Arbeitspensum und verweist auf | |
„das Überlebensschuld-Syndrom“: „Wer eine Katastrophe überlebt, verspü… | |
das Bedürfnis, seine weitere Existenz zu rechtfertigen.“ Jenseits der | |
persönlichen Erinnerungen bietet die von Frederick A. Lubich und Marlen | |
Eckl herausgegebene Festschrift Begegnungen mit diesem inspirierenden wie | |
humorvollen Workaholic. | |
Freunde, Kollegen, Weggefährten haben sich auf eine Spurensuche begeben, | |
spannen den Bogen von Sterns Exilerfahrung zu der von ihm geprägten | |
Exilforschung, seinem Herzensanliegen. [2][Julius H. Schoeps, Direktor des | |
Moses Mendelssohn Zentrums Potsdam], bleibt es vorbehalten, in die Zukunft | |
zu schauen: 2024 soll in Hildesheim ein Studentenwohnheim den Namen Guy- | |
Stern-Haus erhalten. Die nun erschienene Festschrift ehrt einen Zeitzeugen, | |
der schon zu Lebzeiten ein good guy ist. | |
14 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!868836&s=guy+stern&SuchRahmen=Print/ | |
[2] https://www.mmz-potsdam.de/prof-dr-julius-h-schoeps.html | |
## AUTOREN | |
Wilfried Weinke | |
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