# taz.de -- Zum Tod von Guy Stern: Der Traum vom Frieden | |
> Guy Stern war Autor und Shoa-Überlebender, nun ist er im Alter von 101 | |
> Jahren verstorben. Seine Memoiren schildern eindrücklich die letzten | |
> Kriegstage im Mai 1945. | |
Bild: Der Holocaust-Überlebende Guy Stern am 14. 05. 2019 | |
Guy Stern, geboren 1922 in Hildesheim als Günther Stern, emigrierte im Jahr | |
1937 als 15-Jähriger in die Vereinigten Staaten. Seine gesamte Familie | |
wurde im Holocaust ermordet. Er selbst ging in die US-Armee und schloss | |
sich einer Spezialeinheit an. Nach dem Krieg beendete Stern sein | |
Romanistik- und Germanistikstudium und wurde Professor für deutsche | |
Literatur, zuletzt an der Universität Detroit. [1][Zu seinem 100. | |
Geburtstag erschienen seine Memoiren auch auf Deutsch.] Diese Erinnerungen | |
erschienen zum ersten Mal am 9. 5. 2020 in der taz. Am 7. Dezember dieses | |
Jahres ist Guy Stern in den USA gestorben. | |
„Der Morgen des 8. Mai 1945 brach an wie jeder andere auch seit unserer | |
Invasion der Normandieküste. Allerdings übernachteten wir nicht mehr unter | |
Zeltbahnen, sondern hatten Quartier in Wohnhäusern der jeweiligen Stadt | |
bezogen und konnten die eintönige Armeekost ab und zu gegen | |
Restaurantspeisen auswechseln. | |
Und wer und wo waren wir? Bei uns handelte es sich um eine Sondertruppe der | |
amerikanischen Aufklärung, die sich in der Mehrheit aus deutschen und | |
österreichischen Exilanten zusammensetzte. Unsere Ausbildung fand statt in | |
Camp Ritchie, Maryland, und so gaben wir uns selbst den schönen Spitznamen | |
„The Ritchie Boys“. | |
Von sieben Uhr früh bis abends arbeiteten wir an unseren vorgegebenen | |
Aufgaben, Einheiten der amerikanischen Streitkräfte mit kriegswichtigen | |
Information zu beliefern. Die hatten wir entweder deutschen Soldaten durch | |
Ausfragungen abgenötigt oder den Medien entnehmen können. Ein | |
Armeehistoriker stellte später fest, dass mehr als 60 Prozent aller | |
kriegswichtigen Informationen von uns kamen. | |
Am 8. Mai lag unser Standort in Bad Hersfeld in Hessen. Ich war inzwischen | |
zu meinem höchsten Dienstgrad, Hauptfeldwebel, aufgestiegen. Die | |
Unterabteilung unserer Gruppe, genannt „Survey Section“, hatte die Aufgabe, | |
Fragebögen anderer Einheiten zu beantworten. Die kamen von überall her, sei | |
es von unseren Ingenieuren und Medizinern oder von der Luftwaffe. | |
## Wir jubelten, ich am lautesten | |
Am Morgen des 8. Mai 1945 hörten wir, dass Verhandlungen zwischen Walter | |
Bedell Smith als Vertreter von General Eisenhower und dem Hitler-Nachfolger | |
Admiral Dönitz verabredet worden seien. | |
Einer von uns fragte deshalb unseren Befehlshaber Captain Edgar Kann, ob | |
wir nicht mit der Befragung der Kriegsgefangenen aufhören könnten. „Nein“, | |
war die Antwort, „wir machen weiter, bis wir vom Hauptquartier hören. | |
Außerdem soll die feindliche Armee von General Ferdinand Schörner immer | |
noch weiterkämpfen.“ Das forderte mir ein Wortspiel ab: „So schnell | |
schließen die Preußen nicht!“ | |
Dann aber stellte sich heraus, dass das erste Gerücht über den | |
bevorstehenden Waffenstillstand kein leeres war. Wir jubelten, ich wohl am | |
lautesten. Ich informierte unsere deutschen Vertrauenspersonen („trustees“) | |
über die Friedensverhandlungen. Deren Freude über die bevorstehende | |
Entlassung war noch ausgelassener als unsere. Sie kamen im Laufschritt in | |
unseren Konferenzraum, und ohne weiteres Aufsehen hoben sie uns auf ihre | |
Schultern. | |
Unsere Einheit hatte zum ersten Mal arbeitsfrei und jeder von uns feierte | |
den Frieden auf seine Weise: Mir hatte das Freibad von Bad Hersfeld | |
gefallen; nun stieg ich in meine seit Jahren nicht benutzte Badehose und | |
warf mich in das sonnenbeschienene Wasser. Meine Geschwindigkeit löste | |
unter Beobachtern Bewunderung aus, aber kurz vor einem neuen Poolrekord | |
setzte bei mir Müdigkeit ein. | |
## Wir genossen den Frieden | |
Am Abend rückte unser Küchenbulle mit anscheinend gehorteten Leckerbissen | |
heraus und mein gut betuchter Kriegskamerad, Kurt Jasen, fuhr mit unserem | |
Jeep in die Stadt und besorgte einen edlen Tropfen für die gesamte | |
Mannschaft. Wir waren in bester Stimmung. Unsere Unterhaltung erreichte | |
eine Brillanz wie meiner Meinung nach nie zuvor. | |
Wir genossen den Frieden in Bad Hersfeld noch ein paar Tage, bevor uns neue | |
Pflichten erwarteten. Ich wurde zunächst einem Abwehrkommando zugeordnet, | |
dann der amerikanischen Besatzungsbehörde in Karlsruhe zugeteilt. Aber | |
dieser 8. Mai in Bad Hersfeld verbleibt unauslöschlich in meiner Erinnerung | |
als der Tag eines erfüllten Traums.“ | |
8 Dec 2023 | |
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