# taz.de -- Steigende Zahl der Corona-Neuinfektionen: Was ist die Wand? | |
> Die Corona-Wand, die sich derzeit aufbaut, ist aus Luft. Sie ist These, | |
> aber auch Antithese in einem. Sie kommt, obwohl es sie nicht gibt. | |
Bild: „Ein senkrechtes Bauteil, dessen Ausdehnung in der Länge und Höhe seh… | |
Da warten wir, warten auf die Wand. Sie kommt von allen Seiten, baut sich | |
vor jedem auf, umschließt alle. Lässt niemanden durch. | |
[1][„Da kommt keine Welle, sondern eine Wand“], hatte Christian Endt, ein | |
Datenjournalist der Zeit, Mitte Dezember auf Twitter geschrieben. Und | |
verschiedene Modelle gezeigt, wie sich die Wand entwickeln könnte. Wenn | |
eine infizierte Person zweieinhalb Personen oder gar drei weitere ansteckt, | |
geht es steil nach oben. Der Virologe Christian Drosten hat das Bild von | |
der Wand aufgegriffen, den Tweet geteilt. [2][Seine Stimme zählt]. Seitdem | |
warten wir. Die Wand braucht etwas länger als angekündigt. Aber sie kommt. | |
In Bremen, dem Land mit den meisten Geimpften, stand die Inzidenz am | |
Freitag schon bei über 1.500. Und [3][die Weltgesundheitsbehörde WHO | |
schätzt], dass sich im März die Hälfte aller Menschen in Europa mit Corona | |
angesteckt haben könnte. Das wären um die 370 Millionen. | |
Wenn eine Person eine weitere ansteckt und diese auch eine weitere und | |
immer fort, dann addiert sich das einfach: 1+1=2 / 2+1=3 / 3+1=4 / 4+1=5 / | |
5+1=6 / 6+1=7 Nach sechs Infektionsschritten haben sich insgesamt sieben | |
Personen infiziert. | |
Wenn eine Person in der gleichen Zeit wie zuvor zwei weitere ansteckt und | |
diese jeweils auch zwei und immer fort, dann haben sich nach sechs | |
Infektionsschritten dagegen bereits insgesamt 127 Menschen infiziert. | |
Rechnen Sie nach! | |
Wenn eine Person in der gleichen Zeit sogar drei andere ansteckt und diese | |
jeweils auch drei weitere, dann haben sich nach sechs Infektionsschritten | |
insgesamt 1.093 Personen infiziert. Im nächsten Schritt wären es 3.280 und | |
danach 9.841. | |
Sehen Sie, wie rasant das aufsteigt? Bald lässt sich das nicht mehr in | |
einem Diagramm abbilden, wo Fallzahlen in Relation zur Zeit stehen, weil | |
die Zahl der Fälle über den Blattrand hinausreicht, und dann über die | |
Zimmerhöhe, über die Hochhaushöhe, über die Zugspitze. Dann ist die Wand | |
da. Das Wort beschreibt diesen steil nach oben rasenden Strich im Diagramm, | |
der an sich keine Wand ist, nur im metaphorischen Sinne; eine Wand, die wir | |
aber trotzdem physisch erwarten. | |
(Mit den Mathematiker*innen muss übrigens niemand ein Bedauern haben. | |
Sie haben ihre Tricks, um die rasante Zunahme wieder auf einem Blatt | |
abzubilden. Mit Logarithmen etwa.) | |
## Eigentlich sollte eine Wand doch schützen | |
Das Bild von der Wand verschwindet nicht mehr. Sie baut sich schnell auf. | |
Sie ist unüberwindbar hoch. Sie wirft uns zurück. Sie setzt Urängste frei. | |
Was ist die Wand? Ein Tsunami? Ein Gefängnis? Ein Trauma? Trennung und | |
Isolation? Eigentlich sollte eine Wand doch schützen, aber von dieser geht | |
Gefahr aus. | |
„Uns geht es gut; ansonsten warten wir auf die Wand“, schrieb eine Freundin | |
in ihrem Neujahrsgruß. Welche Wand meint sie? | |
Vielleicht hilft [4][ein Blick auf Wikipedia] weiter. | |
Wand (ahd. „das Gewundene, Geflochtene“ zu want „winden“) bezeichnet: | |
- eine Fläche, die einen Hohlraum abgrenzt | |
- ein senkrechtes Bauteil, dessen Ausdehnung in der Länge und Höhe sehr | |
viel größer ist als in der Tiefe | |
- in der Anatomie trennende Häute | |
- eine steile geomorphologische Struktur freiliegenden Gesteins, die | |
Felswand | |
- im Bergbau ein größeres abgetrenntes Gesteinsstück | |
- in der Meteorologie breite, scharfbegrenzte Wolkenformationen | |
„Die Wand“, der Roman von Marlen Haushofer, wird auf Wikipedia | |
[5][ebenfalls aufgeführt]. | |
Die Tsunami-Wand allerdings fehlt dort noch. „Ich habe zurückgeschaut und | |
sah diese Wand auf mich zukommen. Eine Welle war es ja weniger als eine | |
echte Wand aus Wasser. Ich habe dann noch gehört, wie die Druckwelle der | |
Wassermassen die Fenster aus den Rahmen sprengte. Dann sackte mir der Boden | |
unter den Füßen weg. Ich dachte: Jetzt muss ich sterben.“ [6][So schildert | |
Anita Moor], wie sie den Tsunami 2004 auf Khao Lak in Thailand überlebte. | |
Eine Wand aus Wasser war es. | |
## Was, wenn die imaginierte Wand real ist? | |
Auch die Coronawand, die eine Wand aus Luft ist, fehlt bisher auf Wikipedia | |
und auch im Duden. | |
Diese doch eigentlich metaphorische Wand, sie ist ja nicht real, trennt | |
nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit. Da ist nicht nur ein Dahinter | |
und Davor, wie es bei einer Wand anzunehmen wäre, sondern auch ein Zuvor | |
und Danach. Nach dem Tsunami. Nach Corona. Nach der Wand. Als ändere sich | |
das Leben im Angesicht der Wand. Als würde man zurückgeworfen auf ein | |
Innen, wie immer das auch aussähe – und das je nach Perspektive auch ein | |
Außen, ein Jenseits der Wand sein kann. Denn wer weiß das schon, wer weiß, | |
was hinter der Wand ist. Wer weiß, wo hinter und wo vor der Wand ist. | |
Nur um das zu verdeutlichen: Auch die Berliner Mauer war so eine Wand, wo | |
Innen und Außen sich vertauschten. Die in Westberlin dachten, sie wären | |
außen – wegen der Demokratie, der Konsum-, der Reisefreiheit und so, und | |
sie dachten weiter, dass die, die in DDR lebten, drin gefangen seien. | |
Geografisch, und also auch faktisch, saßen die Westberliner jedoch drinnen. | |
Die reale Wand behandelten sie wie eine Schimäre, ein Trugbild. | |
Was aber, wenn die imaginierte Wand real ist? | |
An der Stelle wird Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ interessant. Da wacht | |
eine Frau an einem Maimorgen in einer Jagdhütte auf, und als sie ins Dorf | |
will, stößt sie an eine unsichtbare Wand. „Ich hatte mich davon überzeugt, | |
dass über Nacht eine unsichtbare Wand niedergegangen oder aufgewachsen war, | |
und es war mir in meiner Lage ganz unmöglich, eine Erklärung dafür zu | |
finden“, schreibt die Hauptfigur in ihren Notizen. Durch die Wand ist sie | |
vom Rest der Welt getrennt. Wenn sie dagegen anrennt, verletzt sie sich. | |
Fortan werden Tiere ihre Gefährten. Der Jagdhund, eine trächtige Kuh, eine | |
Katze, die, wie sie, im von der Wand umgebenen Areal gefangen sind. | |
Außerhalb der Wand scheint alles erstarrt, wie eingefroren, auch die | |
Menschen. Die Protagonistin sieht es durchs Fernglas. | |
## Die Coronawand ist aus Luft und doch wirkmächtig | |
Das Buch wirkt wie eine Parabel auf das, was in der Pandemie geschieht: | |
Kontrollverlust, Isolation, Depression, Erstarrung. „Etwas wie die Wand | |
durfte es einfach nicht geben“, schreibt die Protagonistin. Selbst die | |
Ängste, die Paranoia, die viele Querdenkende plagt, befällt sie: „Über die | |
Wand zerbrach ich mir nicht allzu sehr den Kopf. Ich nahm an, sie wäre eine | |
neue Waffe, die geheimzuhalten einer der Großmächte gelungen war.“ | |
Im Laufe des Buches schreibt sie über ihre mühsamen Versuche, sich am Leben | |
zu halten, schreibt über den Alltag, die Versorgung der Tiere, die | |
Ernährung, die Arbeit, die Müdigkeit; sie existiert nur noch. Es ist | |
tiefste Depression. Der Zugang nach außen ist ihr versperrt. Sie erwartet | |
nicht, dass der Zustand sich auflöst, dass die Wand verschwindet, und doch | |
macht genau diese Hoffnung das Buch spannend. | |
Dann taucht tatsächlich ein anderer Mensch auf. Mit einer Axt. Er tötet | |
zwei ihrer Tiere. Sie erschießt ihn. Im Angesicht der Angst übernimmt nicht | |
bloß Irrationalität, sondern Gewalt. Als ginge es ums nackte Überleben. | |
## Was Angst macht | |
Wie, so lautet also die Frage, gehen wir mit dem um, was Angst macht? Diese | |
Pandemie, die uns zurückwirft auf uns, die uns mitunter in die Isolation | |
zwingt. Wie mit der Depression? Wie mit dieser Wand, die sich auftürmt und | |
von der niemand weiß, was dahinter oder davor ist? | |
Darauf aber gibt es nicht eine Antwort. Manche betrachten mit Neugier die | |
Entwicklung. Die meisten allerdings akzeptieren die neue Realität, richten | |
sich an ihr aus, sorgen vor. Der Kontrollverlust treibt sie nicht in | |
Parallelwelten. | |
Einige jedoch können mit dem Kontrollverlust nicht umgehen, negieren die | |
Realität, suchen neue Wahrheiten, die sie zu kontrollieren meinen, eine | |
neue Welt, in der sie, wenn nicht gottgleich, so doch missionarisch, den | |
rechten Weg predigen, mitunter mit Gewalt. | |
Die Pandemie zeigt, wie Extremsituationen auf die Menschen wirken. Was die | |
Angst mit ihnen macht. Dieses übergroße Monster. Dafür steht die Wand. Sie | |
ist These und Antithese zugleich. Sie kommt, obwohl es sie nicht gibt. | |
15 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/c_endt/status/1471750552493170693 | |
[2] https://www.express.de/panorama/corona-drosten-teilt-schock-news-keine-well… | |
[3] /Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5827187 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Wand | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Wand | |
[6] https://www.20min.ch/story/sie-rettete-meinen-mann-und-starb-dann-804381123… | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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