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# taz.de -- Obdachlose und Pandemie: Im Bahnhof wär's wärmer
> Eine Petition der Berliner Obdachlosenhilfe wendet sich gegen die
> 3G-Regel im öffentlichen Nahverkehr, die besonders Obdachlose
> einschränke.
Bild: Schlafplatz unter einer S-Bahnbrücke
Ohne Ausweisdokumente gibt es keinen digitalen Impfnachweis. Und ohne
digitalen Impfnachweis darf auch ein geimpfter Mensch überall dort nicht
hin, wo 3- oder 2G-Regelungen gelten. Das mag für Kino, Klamottenladen und
Restaurant zu verschmerzen sein. Doch in einem Bereich wird das Leben von
Menschen ohne Papiere deutlich massiver eingeschränkt: Seit rund einem
Monat gilt in den Fahrzeugen und auf Bahnsteigen des öffentlichen
Nahverkehrs 3G.
Eine [1][Petition der Berliner Obdachlosenhilfe] richtet sich nun gegen
diese Regelung. „Es gibt einen tiefen Einblick in unsere Gesellschaft, dass
vor allem obdachlose Menschen da wieder vergessen und ausgeschlossen
werden“, sagt Petitions-Initiator Heinz.
Genau genommen sind es zwei Personengruppen, die häufig keine digitalen
Impf- oder auch Testnachweise erbringen können: auf der einen Seite
illegalisierte Menschen ohne Papiere und ohne Aufenthaltsstatus. Vor der
3G-Regelung reichte ihnen ein anonym zu erwerbender Fahrschein. „Jetzt gibt
es Menschen ohne Aufenthaltsstatus, die aus Angst vor Kriminalisierung
nicht mehr Bahn fahren“, erzählt Heinz, der ehrenamtlich für die
Obdachlosenhilfe arbeitet und nur mit seinem Vornamen genannt werden
möchte.
Die zweite Personengruppe sind obdachlose Menschen, die ebenfalls häufig
keine gültigen Papiere besitzen – weil sie abgelaufen, verloren oder
geklaut sind oder weil sie zur ersten Personengruppe gehören. „Gerade
obdachlose Menschen sind aber auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, um
Wege zu erledigen“, sagt Heinz. Dabei sind die Bahnhöfe für Menschen ohne
Obdach noch viel mehr als ein bloßer Wegpunkt. Sie sind zugleich ein Ort,
an dem es zumindest etwas wärmer und etwas sicherer ist. Das Schnorren und
Flaschensammeln in und an den Mülleimern auf den Bahnsteigen ist für viele
Teil des täglichen Überlebenskampfs.
Dass außer in den Fahrzeugen auch auf den Bahnsteigen der U- und S-Bahnhöfe
die 3G-Regelung gelte, sorgt bei Heinz deshalb für besonderen Unmut: „Das
richtet sich explizit gegen obdachlose Menschen, wen sollte das sonst
betreffen?!“
Bereits Ende November, nach dem Beschluss der bundesweit geltenden
3G-Regelung im öffentlichen Nahverkehr, hatte das Bündnis
[2][#BVGWeilWirUnsFürchten] in einem offenen Brief einen Runden Tisch
gefordert, um gegen die strukturelle Diskriminierung obdachloser Menschen
an dieser Stelle vorzugehen. Das Bündnis setzt sich seit Februar 2021 gegen
Machtmissbrauch, Diskriminierung und Gewalt durch privates Kontroll- und
Sicherheitspersonal in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin ein und
befürchtet durch die Kontrolle der 3G-Nachweise eine weitere Bedrohung für
obdachlose Menschen. #BVGWeilWirUnsFürchten gehört auch zu den
Initiator:innen der jetzigen Petition. Diese richtet sich mit der
Forderung nach einer Ausnahmeregelung für obdachlose Menschen nun nicht nur
an die zuständigen Minister der neuen Bundesregierung, sondern auch an die
neuen Senatorinnen der Berliner Regierung: Bettina Jarasch (Grüne) für
Mobilität und Katja Kipping (Linke) für Soziales.
Aus der Mobilitätsverwaltung heißt es zunächst einmal: Die Sicherstellung
des Infektionsschutzes in der Pandemie „ist in den Fahrzeugen und auf den
Bahnsteigen nicht anders umsetzbar als durch eine allgemeine 3G-Regel“.
Wegen der Zwangslage, in die obdachlose Menschen bei kalten
Außentemperaturen geraten könnten, seien aber ausdrücklich Bereiche der
Bahnhofsanlagen davon ausgenommen. Tatsächlich hatte noch der alte Senat
Mitte Dezember nach Protesten nachgebessert und die Betreiber dazu
aufgefordert, einzelne Bereiche auf Bahnhöfen und Bahnsteigen als Flächen
ohne 3G auszuweisen.
In der Sozialverwaltung verweist man auf die Testmöglichkeiten für
obdachlose Personen in Unterkünften und Tageseinrichtungen. Von einem
vollständigen Ausschluss aus dem ÖPNV könne daher nicht die Rede sein, so
ein Sprecher. „Jedoch wäre es sehr sinnvoll, wenn der Bund die
Testverordnung dahingehend ändert, dass für die Bürgertests die Vorlage
eines Personaldokumentes nicht notwendig ist.“
Und die neue Sozialsenatorin selbst betont: „Gleich am Tag meiner Ernennung
habe ich die Verantwortlichen von BVG und Deutscher Bahn kontaktiert, um
das Thema zu besprechen. Ich habe für einen menschlichen Umgang und
Fingerspitzengefühl geworben.“ Kipping verweist zudem auf noch in dieser
Woche neu entstehende Impfmöglichkeiten für obdachlose Menschen.
Doch das Problem der Impfnachweise bleibt. „Bei der Digitalisierung müssen
auch Menschen ohne Papiere von Anfang an mitgedacht werden“, sagt Heinz von
der Obdachlosenhilfe. Deshalb fordere die Petition neben einer raschen
Ausnahmeregelung, die obdachlosen Menschen den generellen Zugang zu
Bahnsteigen und öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglicht, auch, dass soziale
Träger für Menschen ohne Papiere allgemein gültige Impfnachweise ausgeben
können. Bei Redaktionsschluss hatten bereits über 47.000 Menschen
unterzeichnet.
4 Jan 2022
## LINKS
[1] https://www.change.org/p/volker-wissing-stoppt-das-%C3%B6ffiverbot-f%C3%BCr…
[2] https://twitter.com/bvgwir
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Obdachlosigkeit
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Impfung
BVG
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Pandemie
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Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
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