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# taz.de -- Kulturhauptstadt Kaunas: Das Badehaus inmitten der Stadt
> 2022 ist das litauische Kaunas europäische Kulturhauptstadt und sucht
> eine neue Identität. Zusätzlich findet eine Biennale statt.
Bild: „Your Who Never Arrived“, die Installation von William Kentridge im M…
Kaunas taz | Eigentlich lautet sein Namen anders, zumindest der seiner
Vorfahren, Kantrovich, nicht Kentridge. Angeglichen wurde er, zur besseren
Verständlichkeit. William Kentridge, 1955 in Johannesburg geboren, stammt
aus einer litauisch-jüdischen Familie, die Ende des 19. Jahrhunderts vor
drohenden Pogromen im zaristischen Russland aus dem Fürstentum Litauen nach
Südafrika geflohen ist.
Kentridge selbst hat nie in Litauen gelebt. Prägend sei diese Herkunft, so
ist es an verschiedenen Stellen in der Literatur und in Interviews zu
lesen, für ihn dennoch. Trotz weißer Haut sei er als Jude stets als anders
wahrgenommen worden.
Für den international renommierten Künstler steht jetzt demnächst die erste
große Ausstellung in Litauen an. In Kaunas, als ein Höhepunkt des Programms
zum europäischen Kulturhauptstadtjahr 2022. Die Ausstellung Kentridges
allein sei es wert, sich auf die Reise nach Kaunas zu machen und sie werde
die Stadt auf Jahre hinaus auf die kulturelle Landkarte Europas setzen. So
steht es im Katalog von „[1][Kaunas 2022]“.
Auf Jahre hinaus Strahlkraft bewahren, nicht nur für das eine Jahr, in dem
man den Titel trägt, das ist der große Traum, den Städte und Regionen mit
der Auszeichnung als Kulturhauptstadt Europas verbinden. Trotz aller
finanziellen und logistischen Herausforderungen.
## Esch-Alzette und Novi Sad sind ebenfalls Kulturhauptstadt
Und trotz aller komplizierten Entscheidungen. Darüber, welches Bild man
vermitteln will. Und wie dabei gleichermaßen das internationale wie das
lokale Publikum angezogen werden soll. Mit jemandem wie Kentridge?
Vielleicht.
Kaunas ist nach Vilnius die zweitgrößte Stadt Litauens und trägt in diesem
Jahr gemeinsam mit dem luxemburgischen Esch-Alzette und dem serbischen Novi
Sad den Titel Kulturhauptstadt Europas. Kaunas ist eine Stadt mit
wechselvoller Geschichte. Kurzzeitig war sie Hauptstadt des Landes, als
nach dem Polnisch-Litauischen Krieg Vilnius besetzt war. Von 1920 bis 1940
war das, 20 Jahre lang also. „From Temporary to Contemporary“ – der Slogan
von Kaunas 2022 bezieht sich darauf.
Virginija Vitkienė, Direktorin des Programms, bezeichnet die zwei Dekaden
als Kaunas’ „Goldene Zeit“. Die Stadt wuchs an, mehr als 6.000 Gebäude
entstanden, Kulturstätten, Universitäten, Banken, Krankenhäuser,
Privathäuser. Es ist ein architektonischer Schatz, modernistische Bauwerke,
in die sich der Optimismus der damaligen Zeit einschrieb. Dann sind da aber
auch noch die anderen Geschichten, die traumatischen, über die Vernichtung
der jüdischen Bevölkerung während des Holocaust, die Sowjetbesatzung.
Kaunas 2022 will über all das sprechen, um den Titel bewarb sich die Stadt
entsprechend nicht mit Stärken, sondern verwies auf das, woran es ihr
mangle: an Identität, Offenheit, einer lebendige Kultur.
## William Kentridge im M.-K.-Čiurlionis-Kunstmuseum
Was also zeigen? Von den „Kronjuwelen der zeitgenössischen Kultur“ ist in
der PR zu lesen und einem das ganze Jahr andauernden Festival. Welches die
hochkarätigsten Klunker im Geschmeide sind, daran lässt Kaunas wenige
Wochen vor dem Start des Kulturhauptstadtjahrs, bei einem Besuch auf
Einladung des litauischen Kulturinstituts, keine Zweifel.
Immer wieder sind es dieselben Gesichter, die von Plakatwänden und
Bildschirmen leuchten, [2][immer wieder Marina Abramović], [3][Yoko Ono]
und eben William Kentridge. Kaunas will es sich nicht leicht machen, macht
es einem aber auch nicht ganz leicht, seine Entscheidungen
nachzuvollziehen. Warum Abramović? Warum Ono? Was die beiden mit Kaunas’
neuer oder alter Identität zu tun haben sollen, erschließt sich nicht.
Also lieber zurück zu Kentridge. Gezeigt wird dessen Ausstellung im
Nationalen M.-K.-Čiurlionis-Kunstmuseum, Litauens ältestem und
größtem Kunstmuseum, untergebracht in einem imposanten Art-déco-Bau, dessen
Besuch sich auch unabhängig von Kentridge unbedingt empfiehlt, allein
schon, um die Gemälde des namensgebenden Malers und Komponisten Mikalojus
Konstantinas Čiurlionis anzuschauen. Zu sehen gibt es in Kaunas eindeutig
genug, auch ohne Megastars von anderswo.
Was die zeitgenössische Kunst betrifft, schob sich Litauen 2019 ein paar
Reihen nach vorn, als bei der Venedig Biennale die [4][Künstlerin Lina
Lapelytė, die Regisseurin Rugilė Barzdžiukaitė und die Autorin Vaiva
Grainytė] für Litauen den [5][goldenen Löwen für den besten Länderpavillon
erhielten].
## 13. Ausgabe der Kaunas Biennale
Aktuell zeigt Lapelytė bei der 13. Ausgabe der Kaunas Biennale, die seit
ihrer Eröffnung im November quasi das Präludium zu Kaunas 2022 bildet, (und
noch bis 20. Februar läuft) eine sich über drei Stockwerke ziehende
Videoinstallation im sogenannten „Devil’s Museum“. Absolut sehens- und
hörenswert, ist Lapelytė längst nicht die einzige litauische Künstler*in,
die man spätestens jetzt kennenlernen sollte.
Aber nicht wegen des Löwen: „Es war nicht so, dass Venedig einen Boom in
der litauischen Kunstszene ausgelöst hätte, sondern andersherum: Der Boom
war da und Venedig war das Resultat“, sagt Augustas Serapinas, Jahrgang
1990.
Er war damals bei der Venedig Biennale im Jahr 2019 der jüngste unter den
teilnehmenden Künstler*innen und ist jetzt auch bei der Kaunas Biennale
dabei, mit einer Arbeit, die man übersehen könnte, wenn man nicht aus
Kaunas stammt, und die einen komplett verwirren könnte, wenn man es tut.
Serapinas hat ein mehr als 100 Jahre altes ehemaliges Badehaus in die
Stadtlandschaft gestellt. Es steht direkt hinter dem „House of Basketball“,
eine der Spielstätten der Biennale, wie ein Ufo aus einer
Fake-Vergangenheit. Das Spiel mit Authentizität, die Frage, was bewahrt
werden sollte und was nicht, Räume, Orte, die verschwunden oder vom
Verschwinden bedroht sind, das sind Serapinas’ Themen – die nur zu gut zum
Konzept von Kaunas 2022 passen.
## Krise beim Nachbarn Belarus und Handelskonflikt mit China
Hinter der Kaunas Biennale steht keine Institution, zu jeder Ausgabe müssen
sich die Beteiligten neu strukturieren – auch finanzieren. Flexibel mag das
klingen, vor allem aber nach prekären Bedingungen. Dieses Jahr ist das
offensichtlich anders, die Partnerschaft mit Kaunas 2022 und weiteren
Partnern macht es möglich.
Das zeigt sich an der Ausstellung, aber auch hinter den Kulissen: Die
Biennale zahlt den beteiligten Künstler*innen ein Honorar. Als ein
Statement versteht das Serapinas, ein Bekenntnis zu den Kunstschaffenden
und deren Arbeit. Tatsächlich kann man das gar nicht genug hervorheben –
selbst Venedig tut das nämlich nicht.
Auch Vilnius war einmal Kulturhauptstadt Europas. 2009, ausgerechnet.
Mitten in der Wirtschaftskrise wurden die Budgets gekürzt, die litauische
Fluglinie Flylal ging pleite, es gab kaum mehr Direktflüge nach Vilnius,
internationale Gäste blieben aus, ebenso der erhoffte kulturelle oder
touristische Boom.
In anderer Hinsicht kompliziert sind auch die aktuellen Zeiten, nicht nur
wegen Corona: [6][Da ist die Krise um und in Belarus], dessen Grenze nur 30
Kilometer von Vilnius entfernt liegt, und dann noch der Handelskonflikt mit
China. Wie sich all das 2022 weiterentwickeln wird, steht noch in den
Sternen.
## Langfristig vom Titel Kulturhauptstadt profitieren
In der Vergangenheit konnten Städte oft dann langfristig vom Titel der
Kulturhauptstadt profitieren, wenn sie nicht nur ins Programm, sondern auch
in die Infrastruktur investierten. Dass Kaunas das eher nicht tut, könnte
sich als Fehler erweisen. Könnte. Reine Mutmaßung ist das am Ende.
Fragt man die Direktorin Vitkienė, was nach 2022 bleiben soll, so spricht
sie von den vielen Communitys, die sich miteinander vernetzt hätten und das
auch bleiben würden. Was die vielen neu gegründeten Festivals und
kulturellen Projekte betrifft, seien die Kommunen gefragt, Verantwortung zu
übernehmen, weiter zu finanzieren. „Kompetenzen sind es vor allem, die
bleiben werden“, sagt sie noch.
Augustas Serapinas wiederum hofft, Kaunas 2022 könnte es schaffen die
Kultur des Landes zu dezentralisieren. Und, dass Marina Abramović und Yoko
Ono Menschen zur Kultur führen könnten, die sich dafür bislang noch nicht
interessierten. Behält er recht, wäre deren Besuch doch für etwas gut.
28 Jan 2022
## LINKS
[1] https://kaunas2022.eu/en/
[2] /Marina-Abramovic-als-Maria-Callas/!5706784
[3] /Serie-The-Beatles-Get-Back/!5814778
[4] /Performance-Oper-Sun--Sea/!5781705
[5] /58-Biennale-Venedig/!5594560
[6] /Musiker-Igor-Bancer-ueber-Belarus/!5827189
## AUTOREN
Beate Scheder
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