# taz.de -- Performance-Oper „Sun & Sea“: Sand und Sirenengesang | |
> 2019 gewann „Sun & Sea“ auf der Venedig-Biennale den Goldenen Löwen. Nun | |
> war der fulminante Abgesang auf die Erde in Luckenwalde zu sehen. | |
Bild: Als Kulisse der Oper diente das alte Luckenwalder Stadtbad | |
Luckenwalde liegt südlich von Berlin, auf dem Weg nach Jüterbog, im | |
Baruther Urstromtal, das vor rund 21.000 Jahren entstand. Urstromtäler sind | |
geologisch einheitlich aus Sanden und Kiesen aufgebaut, wie die bekannte | |
Digital-Enzyklopädie weiß. Ähnlich wie Böhmen liegt Luckenwalde keinesfalls | |
am Meer, besitzt aber ein aufgelassenes Stadtbad aus den 1920er Jahren. | |
Ebendort konnte man am vergangenen Wochenende kurzzeitig einen Strand | |
besuchen bzw. einen Strandbesuch buchen. 70 Tonnen Sand waren aus der | |
unmittelbaren Nachbarschaft herbeigekarrt und in das seit Jahren ungenutzte | |
Schwimmbecken verfrachtet worden. | |
Auf diese Weise wurde der Installation und Performance-Oper „Sun & Sea | |
(Marina)“ der Boden und die Bühne bereitet. Um den Sand zu trocknen und ihn | |
anschließend für die Sänger:innen und Statist:innen angenehm | |
temperiert zu halten, wurde er mittels Wärmeschläuchen – geleitet durch | |
unterliegende Holzpaletten – beheizt. Der Strom dafür kam als grüner | |
„Kunststrom“ aus dem benachbarten, von Pablo Wendel und Helen Turner | |
ambitioniert als neuer Ort der Kunst geleiteten E-Werk ins Stadtbad. | |
Ein nicht nur selbst technisch-künstlerisch ambitioniertes Konzept, sondern | |
auch inhaltlich aufs Beste mit dem von Lucia Pietroiusti kuratierten | |
Opernprojekt der [1][drei litauischen Künstlerinnen Rugilė Barzdžiukaitė | |
(Regie, Bühne u. Kostüme), Vaiva Grainytė (Libretto) und Lina Lapelytė | |
(Komposition u. musikalische Leitung)] verbunden. | |
## Einstündige Oper im Loop | |
„Sun & Sea“ ist eine einstündige Oper, die im Rahmen der Performance ohne | |
Pause im Loop gegeben wird. Die Zuschauer:innen blicken von einer | |
umlaufenden Empore auf den Sandstrand hinunter. Unter sich sehen sie eine | |
träg-schläfrige Badewelt. Man räkelt sich in Liegestühlen oder auf | |
Badelaken, sonnencremt sich, spielt Federball oder mit dem kleinen Hund, | |
liest, löst Kreuzworträtsel oder hantiert ziellos mit dem Smartphone. | |
Die Langeweile, die wir Urlaub nennen, prägt das gegen Null tendierende | |
Geschehen. Die an diesem Stadtbadstrand versammelten 28 Menschen sind jung | |
und alt, weiblich, männlich (und vielleicht auch divers), sportlich schlank | |
oder behäbig, hell- oder dunkelhäutig, vermögend oder eher ärmlich. Alle | |
hat es in die Sonne und an den Strand gezogen, wo sie nun vor sich hin | |
dösen. Wie beiläufig beginnen sie zu singen, bevorzugt im Liegen. | |
Sie singen solo, a cappella oder im Chor. Die Klänge einer Elektro-Orgel | |
geben den Takt vor. In 23 musikalischen Nummern lauschen wir ihren | |
Gedanken, Erlebnissen und Alltagssorgen, kleinen und großen Katastrophen. | |
Es beginnt mit dem Sonnencreme-Song, führt weiter über den Gesang einer | |
Sirene, die vom Tauchertod ihres Gefährten in Südostasien berichtet, | |
gefolgt von dem Lied der reichen Frau, die prahlt, ihrem achtjährigen Sohn | |
bereits beinah sämtliche Weltmeere gezeigt zu haben. | |
Kurz darauf klagt der erschöpfte Workaholic sein Leid. Lieder, die von | |
allzu viel Sonne, einem bösen Traum, einer Panikattacke oder der absurden | |
Ökonomie der Seidenstraße handeln, setzen die Reihe fort. Bananen, die über | |
tausende Meilen verschifft werden, füllen unseren Serotoninhaushalt auf und | |
im Gegenzug reisen wir um die Erde, um uns an tropischen Stränden zu | |
entspannen. | |
## Ökologische Ballade zu Pandemie und Klimawandel | |
Eine inhaltliche Klimax bildet der von Zwillingen vorgetragene „3 D | |
Sisters' Song“, in dem es heißt, die Welt ließe sich bei Bedarf aus dem | |
3D-Drucker im Handumdrehen neu erschaffen. Der beste lebende Beweis, so die | |
krude Logik der Szene, sind die Zwillinge selbst, die wie ein Ei dem | |
anderen gleichen. Am Ende folgt wieder der Sonnencreme-Bossa Nova, der vom | |
Lichtschutz einer hypersensiblen Haut handelt. | |
Die Oper „Sun & Sea“, vor zwei Jahren auf der Venedig-Biennale [2][mit dem | |
Goldenen Löwen ausgezeichnet], lässt sich im neuen Zeitalter der Angst, | |
hervorgerufen durch Pandemie und Klimawandel, als ökologische Ballade | |
verstehen. Aber das greift zu kurz. Man erlebt eine Art Tableau vivant mit | |
Gesang, das einem Pieter Bruegel-Wimmelweltbild gleicht, in dem eine | |
Zerstreuung suchende Gesellschaft ihren (Badelaken-)Abstandsplatz inne hat | |
– und Sorge trägt, vor allem für sich selber. | |
Das berückend-beglückend Wunderbare aber ist, dass wir es hier mit einem | |
Gesamtkunstwerk zu tun haben, dessen Zauber sich nicht über einen | |
bestimmten ideologischen Leisten schlagen lässt. Von gar nicht so fern her | |
erinnern Stück und Aufführung an ein Ballett von Pina Bausch. | |
Durch die Kraft der Bilder, die Poesie der Texte und die Musik, die bewusst | |
nicht frei von Pathos und Kitsch sind, beflügelt der Reigen die Phantasie | |
und setzt Assoziationen und vor allem auch Gefühle frei, die zunächst keine | |
Richtung haben. Erst im Nachgang lassen sie sich sortieren und begreifen. | |
Distanz tut gut und daher auch eine kleine Reise ins Urkunststromtal. Lange | |
schallt’s im Zug daher noch: „Luckenwalde lebe hoch!“ | |
20 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Michael Diers | |
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