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# taz.de -- Ausstellung im Haus am Waldsee: Zerbrechlichkeit und Stabilität
> Christiane Löhr arbeitet mit Löwenzahn und Disteln, Kletten und Efeu,
> Katzen- und Hundehaar. Im Haus am Waldsee lässt sie ihre Kunst schweben.
Bild: Ölstift auf Büttenpapier – zwei Arbeiten von Christiane Löhr
Ein kleiner Tempel aus Efeusamen, ein Tempel aus Baumblüten, eine Kuppel
aus Pflanzenstängeln und ein Kissen aus Löwenzahnsamen – ihre fragile
Beschaffenheit zeichnet die skulpturalen Objekte von Christiane Löhr aus.
Die in Prato (Italien) und Köln wohnhafte und arbeitende Künstlerin (*1965)
schafft mit Naturmaterialien ephemer wirkende Konstruktionen, Skulpturen
und Architekturen.
Für ihren Auftritt [1][im Berliner Haus am Waldsee] im Rahmen einer
Einzelausstellung entwickelte Löhr mit ihren zarten Objekten einen
speziellen Parcours durch die Kabinetträume. Dafür entstanden Arbeiten, die
einerseits vor Ort von der Künstlerin realisiert werden konnten und die
sich andererseits mit der architektonischen Begebenheit vor Ort
auseinandersetzen.
Das Arbeitsmaterial entnimmt Christiane Löhr, den Jahreszeiten folgend, der
Natur: Samen verschiedener Pflanzen wie Löwenzahn und Disteln, Stängel von
Gräsern, Kletten, Baum- und Efeublüten, Katzen-, Pferde- und Hundehaar und
andere kleine und kleinste Fundstücke der Natur. Pro Arbeit verwendet sie
nur eine einzige Pflanzenart. Die oft winzigen, aus ihrem ursprünglichen
Zusammenhang gelösten Teile dienen als Bauelemente für die fragilen, an
geometrische Körper erinnernden Objekte, die die Künstlerin einzeln oder
in kleinen Gruppen auf weißen Flächen, an Wänden und von Decken hängend
arrangiert.
Die teils nur mehrere Zentimeter großen Objekte sind Resultate einer
intensiven Beschäftigung mit den Prinzipien des Minimalismus, die im
Reduzieren auf einfache und übersichtliche, meist geometrische
Grundstrukturen und häufig in serieller Wiederholung eigene Ordnungen
herstellen mit eigenen Regeln und Gesetzen, die mit Gegensätzen wie Anfang
und Ende, Fülle und Leere operieren. Diese Praxis bestimmt sowohl die Form
der Skulpturen von Christiane Löhr als auch deren inneres Gleichgewicht.
## Zwischen filigran und kompakt
Ohne Zuhilfenahme anderer Materialien kommen ausschließlich die
tragenden und stützenden Kräfte eines sensibel ausbalancierten
Kräftespiels zum Einsatz. Ebenso selbstverständlich wie in der Natur
folgen sie trotz ihrer streng geometrischen Grund- und Umrisse den
Gesetzmäßigkeiten des organisch Gewachsenen, ohne Verwendung von
Klebstoffen.
Die Werke faszinieren zunächst durch ihre Verletzlichkeit, denn die zarten
Konstruktionen legen den Besuchern nahe, sich ihnen mit großer Achtsamkeit
zu nähern, aus Furcht, dass eine unbedachte Bewegung die ungeschützten
Arrangements in eine andere Ordnung bringen könnte. Ebenso bedingt die
Kleinheit der Objekte und ihre Positionierung im Raum eine gesteigerte
Aufmerksamkeit: Man geht in die Knie, beugt sich hinunter zu hüfthohen
Sockeln, legt den Kopf schief oder streckt sich zu den auf Wandsockeln
arrangierten Naturgespinsten, um die kleinen Formwunder aus der Nähe zu
untersuchen.
Neben der Phänomenologie des Vegetabilen sind es klassische Fragen der
Bildhauerei, die Löhr leiten, die dialektischen Prinzipien von
Zerbrechlichkeit und Stabilität, von Filigranem und Kompaktem, von Spannung
und Ruhe, von Leere und Fülle, von Proportion und Volumen, Körper und Raum.
In Werken wie „Turm“, 2014 oder „Kleiner Tempel“, 2006 arrangiert Löhr
Blüten und Samen zu geometrischen Formen, eine „Große Samenwolke“ aus
gelben Distelsamen hängt wie ein Insektennest von der Decke und minutiös
verbindet sie Pferdehaare zu spinnweb- oder säulenartigen Strukturen.
Halme von Gräsern arrangiert die Künstlerin in kleinen Gruppen zu Kuppeln
und Bögen, die in ihrer Feinheit an die Randzonen führen, an denen
natürlich Gewachsenes und kulturell Geschaffenes aufeinandertreffen.
Skulptur, das machen diese einzigartigen Werke deutlich, muss nicht ihren
eigentlichen Gegenstand materialisieren, sondern kann diesen als Aussparung
sichtbar machen.
## Anmut und Konzentration
Man staunt über die präzise Formfindung und die Anmut der Objekte, die die
Leere gleichsam umarmen und ist verblüfft angesichts der Ruhe und der
Luftigkeit der Präsentation. Es ist die Großzügigkeit der Leerlassung, die
zur erhöhten Konzentration verhilft. Selten hat man die Ausstellungsräume
der Zehlendorfer Villa so großzügig wahrgenommen. Mit ihren ephemeren
Exponaten wirkt die Schau wie eine unaufdringliche Rückbesinnung aufs
Wesentliche, wie eine kuratorische Zen-Übung jenseits der angesagten
Museums-Moden. Das Einzelwerk wird Bestandteil eines Gesamtsystems von
mittlerweile über 25 Jahren, in dem das Frühere nicht durch das Jüngere an
Bedeutung verliert.
Bereits 2001 hatte Christiane Löhr, die an der Düsseldorfer Akademie der
Künste bei Jannis Kounellis studierte, ihren großen Auftritt [2][auf der
Venedig-Biennale], als Harald Szeemann ihre Werke für die Hauptausstellung
auswählte. Trotz zahlreicher Ausstellungsbeteiligungen und
Einzelpräsentationen, u. a. 2019 im Tucci Russo Studio in Turin, bei
Taguchi Fine Arts in Tokio, in Tony Craggs Skulpturenpark Waldfrieden in
Wuppertal (2018) und im Kunsthaus in Basel (2016) ist ihre Kunst ein
Geheimtipp geblieben. Jannis Kounellis sprach angesichts von Löhrs Werken
einmal von einer „Weichheit, aber eine so weiche, dass sie der Kraft
nahekommt, und so kräftig, dass sie einem schwarzen Quadrat gleicht.“
Die Kraft der Objekte, die in der Schau durch Aquarelle und Zeichnungen
ergänzt werden, liegt vor allem an der Faszination, die die minutiösen
Objekte trotz ihrer Kleinheit zu erzeugen imstande sind und der Ruhe, die
von ihnen ausgeht. Die Stille ist eines der wichtigsten Werkzeuge von
Christiane Löhr.
Der Blick aus den Fenstern der Ausstellungsräume hinaus in den Garten
hinunter zum kleinen See eröffnet nachgerade ein Sinnbild, erweist sich
beinahe als Metapher: Ein Panorama öffnet sich, das alles ringsum zu einem
Ganzen vereint, wo sich das Große und das Kleine, das Spezielle und das
Allgemeine bruchlos zur Landschaft fügt. Die behutsam arrangierte
Ausstellung im Haus am Waldsee lädt zur bewussten Neubetrachtung ein. Wer
sich darauf einlässt, verlässt den schönen Ort mit einem sensibilisierten
Naturgefühl.
25 Jul 2021
## LINKS
[1] /Retrospektive-des-Architekten-Duos-Barkow-Leibinger/!5695231
[2] /Performance-Oper-Sun--Sea/!5781705
## AUTOREN
Jacqueline Rugo
## TAGS
Kunst
Kunst Berlin
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Skulptur
Natur
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Berlin Kultur
Bildende Kunst
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