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# taz.de -- Nachruf auf Künstler Gerhard Faulhaber: Magie der Zeichnung
> Seine Werke sind Denkbewegungen, die über das Papier wandern und wachsen:
> Zum Tod des Künstlers Gerhard Faulhaber.
Bild: Gerhard Faulhaber, o.T., (Schmetterlingsflügel nach Talbot), 2017, Bleis…
1961, das Jahr, in dem Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht
von der Banalität des Bösen“ erschien, bemerkte Gerhard Faulhaber, dass ein
Mitglied seiner Familie fehlte: sein Onkel. Ein Sonderling, der
traumatisiert aus dem 1. Weltkrieg kam, sich als Sprössling einer
Schlachterfamilie weigerte, Fleisch zu essen, mit den Vögeln sprach, nackt
im Dorfteich stehend wirre Reden hielt.
Faulhabers Vater hatte seinen Bruder in NS-Zeiten in eine Klinik einweisen
lassen. Nie wieder wurde in der Familie über ihn gesprochen. Faulhaber war
sechzehn, als er sich auf die Suche nach ihm machte. Dabei war er selbst
ein Sonderling in der erzkatholischen fränkischen Kleinstadt Lauda. Ein
schwuler Fleischersohn, der Literatur und Kunst liebte.
Er fuhr in die Klinik nach Würzburg, wo er vermutete, dass sein Onkel dort
gewesen war. Man missverstand ihn und bot ihm einen Job als Pfleger in
einer Psychiatrie in der Schweiz an. Er nahm ihn an. Vom Onkel keine Spur.
Doch er war das Ticket in die Freiheit, zum ersten, abgebrochenen Studium
an der Kunstgewerbeschule 1966 in Basel, von wo aus er 1967 in das von den
Studentenrevolten aufgewühlte Berlin kam, wo er dann in den 1970ern an der
UDK seinen Meisterschüler machte.
Da erfuhr Faulhaber schließlich auch die Wahrheit: Sein Onkel wurde kurz
vor Kriegsende in der hessischen Tötungsanstalt Hadamar vergast, in der
14.500 behinderte Menschen ermordet wurden. Das Schweigen der Väter und die
kaum begreifbare Präsenz historischer Gewalt auch im privaten Leben haben
Faulhaber sein Leben lang beschäftigt.
In einer späten Zeichnungsserie Faulhabers von 2012, die sich mit Motiven
des fotografischen Pioniers Henry Fox Talbot (1800–1877) auseinandersetzt,
taucht der Onkel vor dem Elternhaus auf, überzogen von einem Geflecht aus
Licht und Schatten – ein dunstiges, aus unzähligen Grafit-Punkten
zusammengesetztes Bild.
## Engagement in der Homosexuellen Aktion Westberlin
Wie alle von Faulhabers Zeichnungen ist es eine Art meditative Rückholung,
das Ergebnis von konzentrierten Übungen, Exerzitien – einer Methodik, die
als Reaktion auf die eigene Geschichte entsteht. Faulhaber beteiligt sich
1973 am 1. Berliner Realismusstudio. Früh ist er in der Homosexuellen
Aktion Westberlin engagiert, ein Pionier der Schwulenbefreiung. Doch gerät
er in der linken Szene in Bedrängnis, wird als bourgeois beschimpft, weil
er sich nicht auf eine Parteizugehörigkeit festlegen will.
Die Anfeindungen werden so hart, dass er über Jahre aufhört, Kunst zu
machen. In den 1980ern entstehen als Ablösung abstrakte Zeichnungen, die
anmuten wie rhizomartige Geflechte, Denkbewegungen, die über das Papier
wachsen. Faulhaber, der von den Diskursen des Poststrukturalismus geprägt
ist, wird wichtiger Protagonist eines neuen Netzwerkes.
Mit seinem Freund Werner Müller, mit dem er seit 1973 zusammen ist, gründet
er 1986 die Galerie Zwinger, die Künstler*innen wie Bettina Allamoda,
Heinz Emigholz, Ulrike Grossarth, Eran Schaerf oder die Tödliche Doris
vertritt – und Geschichte in der Westberliner Kunstszene schreibt.
## Dunstige, geisterhafte Bilder
Faulhaber, der sich im Hintergrund hält, schießt sein gesamtes Vermögen in
dieses Projekt, das er auch konzeptionell betreut – wie auch die
Aktivitäten von SUSI POP. Währenddessen arbeitet er kontinuierlich am
eigenen Werk. Es entstehen dunstige Bilder nach Talbott, geisterhafte
Räume, Umrisse von Häusern unter fleckigen Himmeln, immer wieder von
zeitgenössischen Motiven durchbrochen: Wärme-Aufnahmen von illegalen
Einwanderern, die sich in Hohlräumen zwischen den Ladungen von Lkws
verstecken, Immigranten, die am Strand als fliegende Händler Souvenirs
verkaufen.
„Faulhabers Bleistift bestäubt und betäubt das makellose Blatt“, schreibt
Hanns Zischler über die Zeichnungen. „Er punktiert es.“ Seine
zeichnerischen Praktiken muteten „magisch“ an, sagt Zischler, erinnerten an
Akupunktur oder Handauflegen. Man kann diese zarten Bilder von
Schmetterlingsflügeln, Baumgerippen, Muscheln, Geflüchteten, tatsächlich
wie eine Art Heilung sehen – als Schutz gegen das Vergessen, für das
Marginalisierte, Schwache, Feine.
Faulhaber, der seit 1986 an Knochenkrebs litt, bewies immer Stärke, obwohl
er unglaublich verletzlich war. Er leistete seiner Krankheit fast vier
Jahrzehnte Widerstand. Nun ist er ihr am 7. Juli nach einem häuslichen
Unfall erlegen.
21 Jul 2021
## AUTOREN
Oliver Koerner von Gustorf
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