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# taz.de -- Wohnungsbau in Deutschland: Comeback der Platte
> Die Ampelregierung will jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen. Kann das
> mit Hilfe des „seriellen Bauens“ funktionieren?
Bild: Beton, Normiertheit, Tristesse: Errichtung eines Plattenbaus in Cottbus 1…
Die Platte. Wie das schon klingt. Nach Beton, Normiertheit, Tristesse.
Manchmal riecht die Platte: ungelüftet, nach Spaghetti mit Tomatensoße aus
dem Glas. Nach Bohnerwachs auf ausgetretenem Linoleum in den Etagenfluren.
In der Platte wohnt, wer arm und ungebildet ist.
Diesem Negativimage könnte Klara Geywitz, die neue Bauministerin der
Ampelregierung, jetzt ein positives Update verpassen. Die Koalition will
jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen bauen lassen, dafür setzt Geywitz auf
„Modelle für serielles Bauen“. Das ist die Plattenbauweise, nur verbal
aufgehübscht. Die SPD-Politikerin stellt sich das so vor: Einheitliche
Module werden irgendwo jenseits der Baustelle gefertigt und
zusammengesetzt. Am Bauort selbst müssen nur noch die Bodenplatte gelegt
und die Module hochgezogen werden. Das entlaste „den Bauprozess, macht ihn
schneller und vermeidet auch sehr viel Baulärm und lange Bauzeiten in den
Innenstädten“, glaubt Geywitz.
Ein Hausbau in Nullkommanichts. Eine Idee, die von Vorbildern vor allem im
Osten inspiriert scheint: Plattenbauviertel in Jena-Lobeda, Halle-Neustadt,
Hoyerswerda, Leipzig-Grünau und natürlich Marzahn, Hohenschönhausen,
Hellersdorf in Berlin. Auf ihrem VIII. Parteitag 1971 beschloss die SED,
die „[1][Wohnungsfrage] als soziales Problem bis 1990“ zu lösen, die
Neubaugebiete an den Rändern der Großstädte waren geboren.
In Berlin-Marzahn legten die Bauleute 1977 los und zogen ein Haus aus
angelieferten Betonplatten in etwa 110 Tagen hoch. In den Wohnungen lebte
der Autoschlosser neben der Schauspielerin, der Professor neben der
alleinerziehenden Mutter. Nicht nur die soziale Durchmischung und
zahlreiche Grünflächen waren garantiert, sondern auch die nötigste
Infrastruktur: Kitas, Schulen, Polikliniken, Mehrzweckhallen mit Kneipe und
Diskothek, eine „Kaufhalle“ als Einkaufsmöglichkeit.
Stellt sich Klara Geywitz das so oder ähnlich vor? Lösen solche
Großsiedlungen das Wohnungsproblem in Ballungsgebieten wie Berlin, Hamburg,
München?
Der westdeutsche Architekt Philipp Meuser, 52, erkennt in der Platte eher
einen politischen als ästhetischen Reiz: Sie ermöglicht, rasch bezahlbaren
Wohnraum für viele Menschen zu schaffen. Das lobt auch der 1982 im
brandenburgischen Eisenhüttenstadt geborene Architekt und Dokumentarist
Martin Maleschka: „Wir können uns von der damaligen Bauweise eine Platte
abschneiden.“
Der Berliner Architekt Jan Große indes sagt: „Klara Geywitz’ Gedanke ist
richtig, die Idee nicht neu, die Umsetzung kurzfristig nahezu unmöglich.“
Große, 58, baut seit mehr als 30 Jahren in Berlin und Brandenburg
Wohnhäuser, Kitas, Schulen, öffentliche Gebäude. Er kommt aus dem Osten,
hat den Plattenbauboom miterlebt und früher selbst in einem solchen Neubau
gewohnt.
Plattenbauten gibt es in nahezu allen Großstädten: Köln, Paris, Brüssel,
Stockholm, Moskau, New York. Allein in Berlin leben heute mehr als 100.000
Menschen in Neubauten, in Fünf- und Sechsgeschossern, in Zehnetagenblöcken,
die sich wie Schlangen durch die Straßen winden, in Hochhäusern mit bis zu
23 Stockwerken.
## Groß geratenes „Arbeiterschließfach“
Die Neubaugebiete in der DDR lösten das Wohnungsproblem zwar nicht
komplett, aber sie linderten es. Fragten Mitarbeiter:innen der KWV,
der Kommunalen Wohnungsverwaltung, in den 80er Jahren Wohnungssuchende, ob
sie lieber in eine – Achtung: Ostvokabular – [2][Zweiraumwohnung] in
Berlin-Prenzlauer Berg oder in eine Einraumwohnung in Marzahn ziehen
würden, lautete die Antwort häufig: Marzahn.
Heiner Müller, der berühmteste Dramatiker der DDR, nannte die Platte
„Fickzellen mit Fernheizung“. [3][Müller] wusste, wovon er sprach, er lebte
bis 1993 selbst in einer. Am 16. Dezember 1979 unterschrieb er einen
Mietvertrag für eine Wohnung im 14. Stock in der Erich-Kurz-Straße 9 in
Lichtenberg. 166 Quadratmeter, unzählige Zimmer, Balkon mit Blick auf den
Tierpark. Mit dem Fahrstuhl kam er bis in den 13. Stock, die letzte Treppe
musste er laufen. 207,85 Ostmark zahlte Müller für dieses groß geratene
„Arbeiterschließfach“, wie die Platte auch genannt wurde.
Müllers 166 Quadratmeter in der DDR waren selbstredend eine Ausnahme.
Gewöhnlich maß eine Dreizimmerneubauwohnung zwischen 55 und 65
Quadratmeter. Durch die Vorfertigungsbauweise und den dadurch gleichen
Grundriss der Wohnungen war die Platte in Verruf geraten. Küchen und Bäder
sahen gleich aus, auch hieß es, eine Schrankwand passe nur an eine
bestimmte Wand, das Bett an eine andere.
Heiner Müller hatte dazu eine sehr eigene Theorie. „Das ganze Problem bei
dieser Architektur war – haben Statiker errechnet –, dass man das Bett
immer nur in die eine Ecke stellen konnte in diesen 10-, 12-,
14-Etagenhäusern. Wenn die alle gleichzeitig gefickt hätten, wäre die
Statik ernsthaft gefährdet worden.“ So jedenfalls sagte Müller es in einem
Interview mit dem Regisseur Alexander Kluge.
Das Bett immer an derselben Stelle widerspricht dem heutigen Anspruch der
Menschen an Freiheit und Individualität, sagt Jan Große. Wer will schon so
wohnen wie der Nachbar und der Nachbar und der Nachbar? Das Bestreben nach
Unverwechselbarkeit auch bei der Wohnung sei aber gar nicht der Knackpunkt
an der Idee der Bauministerin, sagt Architekt Große.
Es ist viel komplizierter: „Vorfertigung ist nichts, was man mal eben auf
die Beine stellt und nächstes Jahr baut man los. Das braucht komplexe
Vorbereitung, Planung, Technologie, Infrastruktur, Vergaberecht.“ Eine
Legislatur reiche da nicht aus. Und: „Serielles Bauen geht nur in großen
Einheiten, also auf der grünen Wiese“, sagt Große. Nicht „seriell“ beba…
werden können komplizierte kleinere Standorte wie Baulücken in den
Innenstädten, also dort, wo die meisten Menschen bezahlbare Wohnungen
suchen.
Große erklärt: Die Baumodule müssen, wenn sie in großer Stückzahl und damit
schnell und preisgünstig produziert werden sollen, dieselben Maße haben.
Mit diesen genormten Maßen passen die Teile nicht ohne individuelle
Ergänzungselemente in innerstädtische Baulücken. „Da gibt es schräge
Häuserecken, dreieckige Grundstücke, Abstandsvorgaben zur nächsten Wand“,
sagt Große. Kurz: Jede Baulücke muss individuell bebaut werden. „Das
erfordert eine jeweilige Anpassung an den Bauplatz und kann mit serieller
Bauweise nicht gelöst werden.“ Oder nur mit sehr kleinteiligen Zusatzteilen
in großer Vielfalt.
## Verkehrskonzept muss mitgedacht werden
Könnte man nicht verschiedene Module entwerfen, die je nach Baulücke
verwendet werden? „Unrealistisch“, sagt der Architekt, „wie groß soll die
Variantenvielfalt sein? Das braucht eine Vielzahl von Elementen, die
wiederum nicht in großen Stückzahlen gefertigt werden, was das Bauen nicht
schneller und billiger macht.“ Er verweist auf ein Kitabauprogramm in
Berlin, das 2017 unter dem Kürzel Mokib, Modulare Kita-Bauten für Berlin,
beschlossen wurde.
Das Modulbauprogramm sah etwa 30 Kitaneubauten vor, 2019 war der Plan auf
neun neue Kitas runtergedimmt, 2021 wurden zwei Häuser eröffnet. Die DDR,
gibt Große zu bedenken, habe immerhin 20 Jahre gebraucht, um die
Plattenbauweise zu entwickeln. Trotzdem kann „serielles Bauen“ eine Lösung
sein. „Aber eben nur an den Stadträndern“, sagt der Architekt. Oder in
Innenstädten auf sehr großen Freiflächen. Diese aber sind rar gesät und
sollen wie beispielsweise auf dem Tempelhofer Feld in Berlin nur teilweise
oder gar nicht bebaut werden, sondern als Freizeit- und Sportflächen
dienen.
Ein Dilemma: „Um den Wohnungsmangel zu beseitigen, muss in den nächsten
Jahren in vielen Großstädten und in deren Umland deutlich mehr als bisher
gebaut werden“, sagt der Immobilienökonom Ralph Henger vom Institut der
deutschen Wirtschaft in Köln. Geschieht dies aber – unabhängig davon, ob es
sich um Großraum- oder Eigenheimsiedlungen handelt –, entstehen neue
Probleme: zunehmender Verkehr von der Peripherie in die Innenstadt am
Morgen und nach Feierabend wieder zurück.
Schon jetzt schieben sich in den Morgenstunden Autoschlangen über die
Ausfallstraßen, meist sitzt eine Person im Wagen. „Das ist komplett
unökologisch und unökonomisch“, sagt Architekt Große: „Will man wirklich
Satellitenstädte bauen, muss das Verkehrskonzept mit Bahnen und Bussen von
Beginn an mitgedacht werden.“ Aber auch dieser Prozess dauert und kostet
viel Geld. Der Ausbau der S-Bahn- und Straßenbahnstrecke in die
Neubaugebiete Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen brauchte viele
Jahre. Heute erweist sich der gut ausgebaute ÖPNV als Glück für die
Bewohner:innen dort.
## Ist Geywitz' Plan eine Schnapsidee?
Und dann ist da noch das Problem mit der Lebensqualität und der sozialen
Monokultur in den Plattenbauvierteln. Will man eine soziale Monokultur
verhindern und die Diversität der Bewohner:innen fördern – so wie einst
im Osten –, muss man dafür sorgen, dass die Plattenbauviertel eine eigene,
gut funktionierende Infrastruktur haben. „Mit Arbeitsplätzen,
Dienstleistungen, Kultur, Einkaufsmöglichkeiten, medizinischen
Einrichtungen. Alle Komponenten einer Altstadt im Neubaugebiet“, sagt
Große. Die Stadt in der Stadt. „Das erfordert eine gute und genaue
Stadtplanung.“ Und die braucht – wieder – Zeit.
Ist Geywitz’ Plan also eine Schnapsidee? „Wer das Wohnungsproblem lösen
will, muss beim Bauen komplett umdenken“, sagt Jan Große. Das heißt: Alle
zur Verfügung stehenden Technologien und Bauweisen nutzen, Standards senken
(auch im Anspruchsdenken), kompakt bauen. Intelligente Grundrisse für
kleinere Wohnflächen, niedrigere Geschosshöhen, um mehr Etagen in einem
Haus unterzubringen. Und familienfreundliches Wohnen mit grünen Höfen und
Holzbauelementen ermöglichen – solche Dinge.
Das Problem mit dem geringen Spielraum für architektonische Improvisation
dürfte allerdings bestehen bleiben.
Heiner Müllers Statikthese indes ist nicht belegt.
9 Jan 2022
## LINKS
[1] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/wirtschaft/lexikon-wohnungsbau-plattenbau…
[2] https://www.youtube.com/watch?v=2wkekZpikbY
[3] https://www.tagesspiegel.de/berlin/anklopfen-bei-heiner-mueller/480464.html
## AUTOREN
Simone Schmollack
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