# taz.de -- Petition der Woche: Abendplausch als Weltkulturerbe | |
> Ein spanischer Bürgermeister glaubt, die Tradition des Plauderns in der | |
> Abendfrische sei bedroht. Es soll nun immaterielles Weltkulturerbe | |
> werden. | |
Bild: Plausch im öffentlichen Raum, hier in Denia vor Corona | |
José Carlos Sánchez Barea hat sich ein Ziel gesteckt. Der Ortsvorsteher des | |
1.400-Seelen-Dorfes Algar in der südspanischen Provinz Cádiz will | |
erreichen, „dass die sozialen Netzwerke nicht mit einer so beliebten | |
Tradition wie dem ‚Plaudern in der Abendfrische‘ Schluss machen.“ Der | |
konservative Politiker aus den Reihen des Partido Popular hat eine Petition | |
an die Unesco auf den Weg gebracht, damit „Charla al Fresco“ – „Plauder… | |
der Abendfrische“ – zum immateriellen Weltkulturerbe ernannt wird. „Wir | |
wollen, dass Familien auf die Straße zurückkehren, dass Erwachsene, Kinder, | |
ältere Menschen zusammenkommen, dass wir alle eine große Familie sind“, | |
fügt er hinzu. | |
Wie üblich im heißen Andalusien holen die Anwohner von Algar Abend für | |
Abend die Stühle auf die Straße. Sie reden über den zurückliegenden Tag, | |
was morgen so kommt, über die jüngsten politischen Skandale, natürlich auch | |
über Corona und vor allem – wie soll es anders sein – über den neuesten | |
Dorftratsch, wer denn eigentlich neuerdings so mit wem … | |
## Nachbarschaftliche Netzwerke schützen | |
Sánchez Barea will die nachbarschaftlichen Netzwerke, die auch im digitalen | |
Zeitalter ohne Smartphone und Tablet auskommen, schützen. Doch ohne soziale | |
Netzwerke geht das freilich auch nicht. Denn um die Unesco von der | |
Initiative zu überzeugen, forderte die Gemeindeverwaltung die Anwohner im | |
August auf, sich besonders zahlreich auf den Straßen einzufinden. Der | |
Aufruf wurde – ja, genau – über Facebook verbreitet. | |
Im Sommer lebt das Dorf auf. Dann kommen auch diejenigen, die auf der Suche | |
nach Arbeit nach Cádiz, Sevilla, Madrid oder Barcelona abgewandert sind, | |
zurück. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen bereichern das „Plaudern in der | |
Abendfrische“. Doch nicht nur die Einwohner und Sommerrückkehrer | |
unterstützen die Initiative. Auf der Facebookseite des Rathauses von Algar | |
melden sich Leute von nah und fern. „In meinem Stadtteil in Tarifa machen | |
wir das Gleiche“, schreibt Gema. María Elena erinnert die Spanier daran, | |
dass dieser Brauch mit ihnen über den Atlantik zog. „Das machen wir auch in | |
den Dörfern Venezuelas und im restlichen Südamerika“, schreibt sie. | |
## Ein mediterraner Brauch | |
Auch die Wissenschaft schaltet sich ein. „Plaudern in der Abendfrische ist | |
ein mediterraner Brauch, der auch in Süditalien und Griechenland vorkommt“, | |
sagte Eva Cote, Anthropologin aus dem nicht weit entfernten Jérez de la | |
Frontera, der spanischen Tageszeitung El País. Selbst in der spanischen | |
Hauptstadt Madrid war das so. Erst die Gentrifizierung der Altstadt | |
beendete die Tradition. | |
Bürgermeister Sánchez Barea weiß, dass sein Dorf keinen alleinigen Anspruch | |
auf die Tradition hat: „Im Freien zu plaudern ist das Erbe aller. Ich hätte | |
nichts dagegen, die Initiative zu teilen. Zumindest haben wir einen Anfang | |
gemacht.“ Der Gemeinderat hat nun einen Antrag an die Provinzdelegation des | |
andalusischen Kulturministeriums gestellt. Dort wird geprüft und dann | |
eventuell weitergeleitet. Bis eine Initiative der Unesco vorgeschlagen | |
wird, können Jahre vergehen. | |
In Algar wird auch im Winter geplaudert und getratscht – in den Kneipen. | |
Dieser Tage regt man sich über einen Diebstahl auf. Die Musikanlage der | |
Gemeinde, die per Lautsprecher die Hauptstraße mit Weihnachtsmusik | |
beschallte, wurde entwendet. Noch so eine Tradition, die sich Algar mit | |
anderen teilt. | |
1 Jan 2022 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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