# taz.de -- Pläne der Ampelkoalition: Die neue Digital-Begeisterung | |
> Für die neue Ampelkoalition ist es einfach, mit Digitalthemen zu punkten. | |
> Aber in manchen Stellen im Koalitionsvertrag steckt Gruseliges. | |
Bild: Verlegung von Glasfaserleitungen für ein schnelles Internet | |
Die Digitalpolitik der vergangenen Bundesregierungen hinterließ mitunter | |
den Eindruck, dass es besser gewesen wäre, sie hätten nichts getan. Nicht | |
ein x-tes Mal die [1][Vorratsdatenspeicherung] einbringen, obwohl der | |
Europäische Gerichtshof ganz klar gesagt hat, dass damit die Grundrechte | |
von Bürger:innen verletzt werden. Nicht eine Steigerung von 1,8 | |
Prozentpunkten bei der Versorgung von Haushalten mit mittelschnellem | |
Internet als Erfolg verkaufen. Kein Pilotprojekt für [2][Flugtaxis] starten | |
– und fördern. | |
Und nicht auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass die in Arbeit | |
befindliche E-Privacy-Verordnung, die unter anderem die digitale | |
Kommunikation besser schützen soll, verwässert wird, weil irgendwelche | |
Branchen in Deutschland der Ansicht sind, die zur Debatte stehenden Regeln | |
könnten ihre Geschäftsmodelle bedrohen. Einfach mal nichts tun. | |
Das Problem ist natürlich: Wer nichts tut, verbockt zwar (im besten Falle) | |
auch nichts, kümmert sich aber auch nicht um das Notwendigste. Zum Beispiel | |
darum, dass endlich alle Menschen in Deutschland Zugang zu einem | |
Glasfaser-Internetanschluss haben. Und ja, auch alle Schulen. Inklusive der | |
notwendigen Endgeräte. | |
Dass Bundes- und Landesbehörden und andere staatliche oder öffentliche | |
Stellen und Unternehmen nicht mit Software-Produkten von US-amerikanischen | |
Herstellern mit Überwachungstendenzen arbeiten. Dass internetfähige Geräte | |
regelmäßige Updates bekommen und nicht teilweise schon beim Kauf völlig | |
veraltet sind. | |
In den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP haben es Sätze geschafft, | |
die klingen, als hätte die Ampel das mit der Digitalisierung verstanden. | |
Als hätte sie die Fallstricke und Dissonanzen dabei genauso durchdacht wie | |
die Auswirkungen auf die Individuen und die gesamte Gesellschaft. | |
Zu komplex? Ein Beispiel: „Wir stärken digitale Bürgerrechte und | |
IT-Sicherheit. Sie zu gewährleisten ist staatliche Pflicht.“ Diesen Satz | |
hat die neue Koalition sich in ihr Programm geschrieben und man möchte | |
nicht nur rufen: Ja, endlich hat es mal jemand in (von damals aus gesehen | |
baldiger) Regierungsverantwortung erkannt! | |
Sondern man möchte auch noch überlegen, was in diesen zwei kurzen Sätzen | |
eigentlich alles drinsteckt: Zum Beispiel, dass das Ausnutzen von | |
Sicherheitslücken durch staatliche Stellen zu Überwachungs- oder | |
Spionagezwecken nicht geht. Denn es schwächt die IT-Sicherheit. | |
Dass sämtliche Überwachungspläne von Vorratsdatenspeicherung bis zur | |
Überwachung verschlüsselter Messenger-Kommunikation, wie sie auf EU-Ebene | |
vorangetrieben wird, eingestellt werden müssen. Dass Behörden oder | |
öffentliche Einrichtungen wie Schulen softwaremäßig ganz anders aufgestellt | |
werden müssen, denn was dort passiert, hat mit IT-Sicherheit teilweise | |
wenig zu tun. Dass es eine detaillierte Update-Pflicht für vernetzte Geräte | |
geben muss, damit Verbraucher:innen nicht Smartphones, vernetzte | |
Küchenmaschinen oder Staubsaugerroboter verwenden, die dank völlig | |
veralteter Software angreifbar sind. | |
## Nicht nur der Sommerabend am See | |
Oder ein anderer Satz: „Für öffentliche IT-Projekte schreiben wir offene | |
Standards fest. Entwicklungsaufträge werden in der Regel als Open Source | |
beauftragt, die entsprechende Software wird grundsätzlich öffentlich | |
gemacht.“ Hier wird eine alte Forderung von Akteur:innen aufgenommen, | |
die sich mit digitalem Verbraucherschutz auskennen: Public Money, Public | |
Code. | |
Wenn der Staat Software in Auftrag gibt, dann soll diese bitte auch | |
quelloffen sein. Damit Interessierte, Gelangweilte oder Neugierige | |
reinschauen können, was eigentlich drin steckt, zum Beispiel in der | |
[3][Corona-Warn-App]. Die war nämlich einer der extrem raren Fälle, in | |
denen der Code tatsächlich unter einer [4][Open-Source-Lizenz] erstellt | |
wurde. | |
Man könnte noch eine Weile weitermachen mit schönen und richtigen Sätzen, | |
etwa zum Thema Recht auf Verschlüsselung (soll kommen), biometrische | |
Überwachung im öffentlichen Raum (geht nicht) oder Bundestransparenzgesetz | |
(geplant). Aber der Koalitionsvertrag ist eben nicht nur der Sommerabend am | |
See, an dem alles möglich erscheint – sondern auch die Fahrt durch das | |
Gewitter nach Hause. | |
Und da fällt auf, dass auch schöne und richtige Sätze nicht komplett | |
kaschieren können, dass es anderswo recht dünn wird. Zum Beispiel, wenn es | |
um Finanzierung und zeitliche Ziele geht, etwa für den Breitbandausbau, die | |
Digitalisierung der Verwaltung oder den Bildungsbereich. Und schnelles | |
Internet, so finden es die drei Parteien, gehört zwar zu „guten | |
Lebensbedingungen“. Aber wie schnell es dafür sein muss, ob jede:r ein | |
Recht darauf hat – das bleibt offen. | |
## Leichter und schwerer Grusel | |
Um so befremdlicher, wenn es in viel trivialeren Bereichen konkret wird. So | |
soll zum Beispiel geprüft werden, ob ein „Grundbuch auf der Blockchain“ | |
möglich ist. Und auch die Vorratsdatenspeicherung wird immer noch nicht | |
explizit ausgeschlossen. | |
Leichter Grusel kommt dann im Gesundheitsbereich auf: Die Einführung von | |
elektronischem Rezept und elektronischer Patientenakte (ePA) soll | |
„beschleunigt werden“. Wenn es diesen beiden allerdings an einem nicht | |
fehlt, ist es Geschwindigkeit – die sollte in der Vergangenheit immer | |
wieder über Mängel in anderen Bereichen, von IT-Sicherheit bis Akzeptanz, | |
hinwegtäuschen. | |
Der Grusel steigert sich noch bei folgendem Satz: „Alle Versicherten | |
bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist | |
freiwillig (opt-out).“ Nur wer aktiv widerspricht, soll also um die | |
elektronische Patientenakte herumkommen? Hatte die | |
Datenschutz-Grundverordnung nicht auch etwas von Privacy by Default – also | |
als Standardeinstellung – gesagt? | |
Zu einer guten Digitalisierungspolitik gehört auch: zu erkennen, wo die | |
Grenzen sind. Und das scheint der neuen Koalition vor lauter | |
Digital-Begeisterung schwer zu fallen. Das Spannende wird daher sein, | |
welchen Projekten die neue Koalition Priorität einräumt. Denn in vier | |
Jahren lässt sich viel schaffen. Auch viel Sinnvolles. Wenn man will. | |
16 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Vorratsdatenspeicherung/!t5011510 | |
[2] /CSU-MinisterInnen-stellen-Flugtaxi-vor/!5576436 | |
[3] /Neues-Infektionsschutzgesetz/!5813987 | |
[4] /Open-Source/!t5018079 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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