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# taz.de -- Kreuzberger Tickethändler über Konzerte: „Der Kiez ist immer no…
> Seit 30 Jahren betreibt Christian Raschke die Konzertkasse Koka36 in
> Kreuzberg. Im Interview erzählt er, wie sich der Kiez seitdem verändert
> hat.
Bild: Will sein Firmenjubiläum genauso wenig feiern wie seinen Geburtstag: Chr…
taz am wochenende: Christian Raschke, die Kreuzberger Konzertkasse
[1][Koka36] gibt es seit nun genau 30 Jahren. Welches waren die Konzerte,
bei denen es den größten Ansturm auf die Tickets gab?
Christian Raschke: Die Konzerte von Robbie Williams zählen sicher zu den
Highlights, auch die früheren Stones-Konzerte waren immer der Renner. Und
wenn Die Ärzte im SO36 spielen, dann stehen die Leute die 300 Meter bis zum
Heinrichplatz Schlange – zwölf Stunden, bevor wir aufmachen. Das liegt
daran, dass Die Ärzte mir die Karten für die Konzerte im [2][SO36] oft
exklusiv geben. Daneben gibt es aber auch sehr viele kleine Konzerte, die
gut laufen. Es sind nicht immer nur die großen.
Gibt es einen Moment in den 30 Jahren, den Sie nie vergessen werden?
Das hatte mit Karten für ein Rolling-Stones-Konzert zu tun – muss so 20
oder 25 Jahre her sein. Damals mussten wir die Karten vom Veranstalter
wirklich kaufen, normalerweise ist der Tickethandel ja ein
Kommissionsgeschäft. Ich bin also mit einer dicken Aktentasche voller
Bargeld zum Veranstalter gefahren und habe einen Stapel Karten gekauft.
Vorher musste ich mit meiner Bank verhandeln, dass sie mir genug Bargeld
zur Verfügung stellen. Das war obskur, das fand ich gut.
Und aus der Sicht des Konzertgängers – welches waren für Sie die
Top-Konzerte?
Früher bin ich oft spontan zu Konzerten gegangen. Seit ich Kinder habe, ist
das weniger geworden. Wenn ich zu Konzerten gehe, dann fast nur noch zu
meiner Lieblingsband AC/DC. Oder wenn eben im SO36 Die Ärzte oder Die Toten
Hosen kleine Clubshows spielen – das macht natürlich Spaß.
Was war ein Tiefpunkt?
Mal abgesehen von der Pandemiesituation, über die wir sicher noch sprechen
werden, ist das Theaterkassengeschäft ein Saisongeschäft. Im Sommer läuft
es meistens schlecht. Die Highlights finden zwar alle im Sommer statt, aber
der Vorverkauf findet im Herbst, Winter und Frühjahr statt. Das ist halt
so, das muss man wissen.
Bleibt man auch mal auf Karten sitzen?
Wie gesagt, wir erhalten die Karten ja fast immer auf Kommission,
wirtschaftlich sind wir keine Händler, sondern Kommissionäre. Am Tag der
Veranstaltung rechnet man ab, was man verkauft hat, den Rest gibt man
zurück. Man bleibt auch mal auf einer Karte sitzen, die jemand nicht
abgeholt hat – insgesamt aber ist das Risiko sehr gering.
Sie haben Koka 1991 gegründet, lebten aber schon lange in Westberlin. Was
haben Sie vorher gemacht?
Geboren bin ich in Bremen, aber ich habe nur mein erstes Lebensjahr dort
verbracht. Ich wohne also seit 63 Jahren in Berlin. Lange Zeit habe ich im
behüteten Zehlendorf gelebt, dann hat es mich im Rahmen meiner
Fahrlehrerkarriere nach Kreuzberg verschlagen.
Sie waren Fahrlehrer?
Ja, bevor ich Koka36 eröffnet habe, hatte ich eine Fahrschule und eine
Autovermietung an gleicher Stelle. Das Ladengeschäft habe ich jetzt seit
rund 40 Jahren. Acht Jahre habe ich die Fahrschule hier drin gehabt, aber
ich hatte irgendwann keine Lust mehr auf den Beruf. Also habe ich mir
gesagt: Bevor die Schüler darunter leiden, höre ich lieber auf.
Wie kam es, dass Sie dann Koka eröffnet haben?
Ein Freund von mir hatte bereits eine Theaterkasse in Charlottenburg. Er
hatte die Idee, ein weiteres Geschäft zu eröffnen. Einige Monate haben wir
Koka zusammen betrieben, aber wir haben gemerkt, dass wir nicht
zusammenarbeiten können. Dann habe ich allein weitergemacht.
Anfang der Neunziger war ein guter Zeitpunkt für die Eröffnung. Die Stadt
wurde doppelt so groß, Kreuzberg wurde zum Hotspot.
Ja, das war eine spannende Zeit. Durch die Öffnung der Mauer wurden viele
neue Veranstaltungsstätten zugänglich.
Das Konzertkartengeschäft hat sich danach stark gewandelt. Erst wurden
Ticketsysteme eingeführt. Inzwischen dominieren die, die die Systeme
eingeführt haben, den Markt. Wie haben Sie den Wandel erlebt?
Als ich angefangen habe, gab es meist hübsche Hardtickets, also gedruckte
Konzertkarten, manchmal auch Tickets von der Rolle. In den frühen
Neunzigern kamen die ersten Ticketsysteme. Insgesamt haben die
Ticketsysteme und die Digitalisierung auch viele Vorteile mit sich
gebracht. Wir haben heute ein viel größeres Angebot und eine breitere
Spanne als früher, ich kann online auf mehr als 100.000 Veranstaltungen
zugreifen und Tickets für sie verkaufen. Wenn heute einer kommt und sagt:
ich will in München auf Konzert X oder Y gehen, kann ich ihm eine Karte
verkaufen.
Aber …?
Als das eingeführt wurde, waren viele meiner Kollegen schon sehr skeptisch
– sie fürchteten, dass die Anbieter selbst ins Konzertkartengeschäft
einsteigen. Ich weiß noch, wie die Ticketsystemanbieter damals hoch und
heilig geschworen haben, nie selbst Karten zu verkaufen. Es ist anders
gekommen.
Was hat sich dadurch verändert?
An Tickets für manche Veranstaltungen kommen wir gar nicht mehr ran oder
wir können sie erst später anbieten als die großen Ticketsysteme. Die
Kosten kann ich mit meinem kleinen Laden aber nur decken, wenn ich auch an
den großen Konzerten mitverdiene – die machen vielleicht nur fünf bis zehn
Prozent des gesamten Angebots aus, bringen aber viel Geld ein. Wenn Tickets
für diese Highlights über große Verkäufer exklusiv verkauft werden, fehlen
mir einfach massiv Einnahmen. Da helfen die Tickets für die vielen kleinen
Veranstaltungen, die wir auch sehr gerne verkaufen, nur bedingt weiter.
Wie hoch ist die Abhängigkeit von großen Anbietern wie Eventim oder
Ticketmaster mit ihren eigenen Ticketsystemen?
Die Abhängigkeit ist zweifelsohne vorhanden. Ohne diese Anbieter könnte
heute keine Theaterkasse überleben.
Was hat sich durch die Digitalisierung noch verändert?
Es gibt inzwischen auch viele Veranstalter und Künstler, die ihre Tickets
selbst verkaufen. Rammstein verkaufen inzwischen nur noch Tickets über die
[3][bandeigene Website].
Oft kann man jetzt auch E-Tickets über den Veranstalter oder den
Veranstaltungsort buchen, auch bei öffentlich geförderten Häusern nimmt das
zu. Sind Sie dann als Konzertkartenverkäufer komplett raus?
Nein, ich komme schon in deren Ticketsysteme und kann auch Karten anbieten.
An die Tickets komme ich aber nur zu schlechten Konditionen. Denn die
Veranstalter oder die Häuser verkaufen fast alles ohne Vorverkaufsgebühren
– die subventionierten Häuser haben es zum Beispiel gar nicht nötig,
Vorverkaufsgebühren zu nehmen. Wir müssen diese Gebühren aber nehmen, weil
wir davon leben. Wenn Leute bei mir eine Karte für 100 Euro kaufen, denken
sie, ich hätte mir damit eine goldene Nase verdient. Das stimmt aber
natürlich nicht. Wenn wir heute noch zehn Prozent des Gesamtpreises
behalten können, sind wir sehr glücklich – in der Regel sind es sieben
Prozent. Als wir angefangen haben, waren 15 Prozent gang und gäbe. Davon
muss ich zehn bis elf Angestellte bezahlen, die ich inzwischen habe, dazu
die Anschlussgebühren für vier oder fünf verschiedene Ticketsysteme, Miete
und so weiter. Der Kostenaufwand ist schon enorm.
Kann man E-Tickets denn auch über Koka36 kaufen?
Nein, E-Tickets aus den Ticketsystemen dürfen wir nicht verkaufen. Das
Geschäft machen andere. Wir dürfen nur gedruckte Tickets anbieten.
Dennoch scheint Koka36 ein Laden zu sein, der vergleichsweise gut durch
Krisenzeiten kommt und in diesem schrumpfenden Markt ein gutes Standing
hat. Woran liegt das?
Ohne uns selbst beweihräuchern zu wollen: Ich glaube, wir bieten auch
wirklich einen guten Service. Wenn Konzerte ausverkauft sind, versuchen wir
noch an Karten zu kommen. Wir sind kulant, wenn es um Rückgaben geht. Und
wir informieren über Konzerte: Versuchen Sie mal gerade herauszufinden,
welche Konzerte in Berlin wegen Corona verlegt, verschoben oder abgesagt
worden sind. Auf unserer Seite kann man sich darüber informieren. Zwei
Leute machen bei uns gerade den ganzen Tag nichts anderes, als unsere
Website dahingehend zu aktualisieren.
Ist es vor allem ein älteres, gestandenes Konzertbesucherklientel, das Sie
bedienen?
Es ist total gemischt. Wir haben ja zum Beispiel auch Karten für HipHop-
und Trap-Konzerte im Sortiment, auch aus dieser Szene kaufen sehr viele
Leute bei uns. Natürlich sind auch Udo-Lindenberg-Fans unsere Kunden, aber
das ist nicht das Gros bei uns.
Aber die ganz junge Generation geht doch sicher nicht mehr in einen Laden,
um Tickets zu kaufen.
Doch. Viele sogar sehr gerne. Bei Veranstaltungen, wo es auf Beratung
ankommt – also etwa Platzberatung – sind sie bei uns besser bedient, weil
wir alle Veranstaltungsstätten ziemlich gut kennen. Gerade eben noch kamen
drei junge Kunden rein, die mich Sachen gefragt haben, bei denen sie im
Internet nicht weitergekommen sind. Wir haben auch viele Kunden, die ganz
bewusst im Laden und nicht im Internet kaufen wollen. Trotzdem weiß ich
nicht, ob es eine klassische Vorverkaufsstelle wie uns in 20 Jahren noch
geben wird.
Was haben Sie am 13. März 2020 gedacht, als alle Berliner Clubs
coronabedingt schließen mussten?
Erst hat ja niemand damit gerechnet, dass sich das so lang hinziehen wird.
Man dachte, das geht jetzt vielleicht zwei, drei Wochen so. Als sich das
ganze Ausmaß abzeichnete, gab es ein großes Durcheinander: Was passiert mit
den Tickets für die ausgefallenen und verschobenen Konzerte? Aber ich habe
die Hoffnung nie aufgegeben, auch wenn es streckenweise schwer war. Ohne
Hilfen wäre ich allerdings nicht über die Runden gekommen, dann gäbe es
Koka36 nicht mehr. Wir machen auch heute nur ein Drittel des Umsatzes
verglichen mit Vor-Corona-Zeiten – meine Kosten kann ich damit immer noch
nicht decken. Es wird bei uns noch dauern, bis wir wieder auf eigenen
Beinen stehen können.
Wie hart hat es Ihre Branche insgesamt getroffen?
Im Zuge der Pandemie haben etwa die Hälfte der Theaterkassen in Berlin
endgültig zugemacht, schätze ich. Und die noch übrig gebliebene Hälfte hat
vorübergehend geschlossen. Da ist dann einfach keiner. Die machen
vielleicht irgendwann wieder auf, wenn es sich lohnt. Wir waren eine der
wenigen Theaterkassen, die auch zu Coronazeiten durchgängig erreichbar war.
Die Lage bleibt fragil. Auch bei 2G-Regelungen oder 2G+-Regelungen sind die
Leute vorsichtig – zu Recht, wie sich gezeigt hat.
Klar, es herrscht eine große Unsicherheit. Das ist auch verständlich. Die
Meinungen darüber, ob und wie das Konzertgeschäft wieder Fahrt aufnehmen
würde, gingen sehr weit auseinander. Die einen meinten: sobald Konzerte
wieder möglich sind, wird es einen unglaublichen Run auf die Tickets geben.
Die anderen meinten: Da wird keiner kommen. Es ist so ein Mittelding
geworden, würde ich sagen.
Die Oranienstraße, die Adresse des Koka36, ist besonders stark vom Aufkauf
und der Gentrifizierung betroffen, zuletzt musste [4][Kisch & Co]. den
alten Laden in derselben Straße räumen. Haben Sie einfach Glück gehabt mit
Ihrem Eigentümer?
Ja. Das Gebäude ist in Familienbesitz, und damit bin ich auch ganz
glücklich. Klar, auch bei mir steigen die Mieten, aber ich kann mich nicht
beschweren. Ich bin froh, dass das Haus nicht irgendwelchen großen
Wohnungsbaugesellschaften oder Investoren gehört. In der Oranienstraße sind
viele Investoren unterwegs, die die Häuser blockweise kaufen und die Leute
vergraulen und rausschmeißen.
Wenn Sie an Kreuzberg 36 im Jahr 91 zurückdenken und es mit 2021
vergleichen, was ist der fundamentale Unterschied?
Es ist viel mehr Trubel auf der Straße. Früher war die Oranienstraße
wesentlich gemütlicher. Da hat man auch mal Parkplätze gefunden, was heute
schwer ist. Vieles ist aber auch geblieben, es hat sich nicht alles
geändert.
Gerade in diesem Teil von 36 hat man oft das Gefühl, als ob es gewisse
Dorfstrukturen gibt.
Ja. Der Kiez ist immer noch da. Ich selbst versuche auch, möglichst viele
Dinge hier in der Gegend zu erledigen.
Das 30-jährige Jubiläum haben Sie nicht groß gefeiert. War daran auch
Corona schuld oder wollten Sie nicht feiern?
Nee, ich hätte eh nicht groß gefeiert. Ich bin kein Mensch, der sich selber
gerne feiert. Ich würde ich auch meine Geburtstage nicht feiern, wenn meine
Frau nicht immer etwas organisieren würde. Wenn ich etwas feiere, dann ist
das Weihnachten, wegen der Kinder.
Gibt es ein Konzert, auf das Sie sich persönlich sehr freuen?
Für mich selbst nicht. Aber ich werde nächstes Jahr zum ersten Mal mit
meinen Kindern ein Konzert besuchen, zwei Jungs, 8 und 9 Jahre alt.
Entweder zu den Ärzten oder den Toten Hosen aufs Tempelhofer Feld. Darauf
freue ich mich für sie.
Konzerte sind für viele etwas Elementares, fast Unverzichtbares. Ist es die
Leidenschaft der Kunden, die auch bei Ihnen dafür sorgt, dass Sie Ihren Job
gern machen?
Manchmal wundert man sich wirklich, wie viel Geld einige Leute, die ganz
offensichtlich nicht viel haben, für Konzerte ausgeben. Und wenn Kunden bei
uns für ein eigentlich ausverkauftes Konzert doch noch zwei Karten
bekommen, weil die irgendwo liegengeblieben sind, und wenn man dann deren
strahlende Augen sieht, dann ist das natürlich schon schön.
Das heißt, es wird nicht passieren, dass Sie die Lust am Beruf verlieren
wie damals als Fahrlehrer?
Nein. Koka ist mein Leben, ich kann nicht aufhören damit. Rente gibt es bei
mir sowieso nicht, ich würde eh nicht viel bekommen. Solange ich laufen
kann, werde ich die Koka weitermachen.
28 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.koka36.de/
[2] https://www.so36.com/tickets
[3] https://www.rammstein.de/de/
[4] /Gentrifizierung-in-Berlin/!5691217
## AUTOREN
Jens Uthoff
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